Frédéric (Fryderyk) CHOPIN

Die Nocturnes

21 »Nachtstücke« hat Chopin komponiert, basierend auf den Serenaden-Gesängen der Klassik, wie wir sie bei Mozart (etwa in → KV 549) finden, vor allem aber nach dem Vorbild der instrumentalen einsätzigen Stücke, die John Field (1782-1837) komponiert hat: Er war der Erfinder der Instrumentalgattung »Nocturne«, die so etwas wie eine Hommage an das gesangliche Spiel am Klavier darstellen. Chopin hat Fields Werke schon in seiner Jugend kennen und schätzen gelernt.

Die Nocturnes op. 9 und op. 15

Viele Kommentatoren halten die Beschäftigung mit Fields auf möglichst expressive Durchgestaltung der Melodielinie konzentrierte Ästhetik für die grundlegende Anregung zur Abkehr des jungen Chopin vom brillant-virtuosen Stil seiner Warschauer Kompositionen. Seine Nocturnes schließen ganz eindeutig an das Vorbild an, sind zunächst ebenso simpel dreiteilig gehalten, kleine »Arien« für den Pianisten, weit geschwungene, oft komplex differenzierte und ornamentierte Liedmelodien mit recht simpler Begleitung.

Im übrigen wird vor allem an der Es-Dur-Nocturne nicht nur Fields Vorbild zum Greifen deutlich: Field wie der junge Chopin bedienene sich dort, wo sie die Melodie mit filigranem Rankwerk auszieren, ganz selbstverständlich bei den Koloraturen der Belcantisten, vor allem bei Rossini.

op. 9/2: Die Melodie und ihre ausgezierte Variante

Wobei Chopin bereits im dritten der Nocturnes op. 9 den MIttelteil zu einem kontrastierenden Episode ausbaut. In der Folge schafft er einen Typus, bei dem die bewegteren Außenteile durch ein sanftes »Trio«kontrastiert werden - oder umgekehrt. Op. 15/1 (F-Dur) überrascht mit einem stürmischen con fuoco-Abschnitt - ein »Hirtenlied mit Gewitter« nannten die Zeitgenossen das Stück. Op. 15/2 (Fis-Dur) steigert die zentrale Partie erst nach und nach zu einem emotionellen Höhepunkt. In op. 15/3 (g-Moll) ist von der Dreiteiligkeit der Field'schen Form kaum noch etwas zu bemerken: Hier entwickelt Chopin eine bruchlose Erzählung, in der eine wörtliche Reprise nicht mehr möglich ist. Stattdessen verwandelt sich der Solo-Gesang gegen Ende des Stücks in eine Art Choral von etwas altertümlichem, retrospektivem Charakter.

Auf die Dreiergruppen von Nocturnes, die Chopin bis 1832 heausbrachte (op. 9 bzw. 15) weitete der Komponist das Kontrastprinzip zu Zweiergruppen,in denen er Nocturne-Paare höchst unterschiedlichen Charakters, gegensätzlichen Tempereaments miteinander konfrontierte.


Nocturnes op. 27

Diese beiden Werke gehören schon auf Grund ihrer tonalen Einheit zusammen: Nocturne cis-Moll (op. 27/1) stellt die gespannte, tiefgründige Gegenposition zur lyrisch-entspannten Des-Dur-Melodik des folgenden Lento sostenuto (op. 27/2) dar, in dem eine sanfte Gondellied-Melodie dreimal gesungen wird, jedesmal in einer harmonisch subtil neu beleuchteten Variante. Robert Schumann geriet über dieser Musik ins Schwärmen:
das Herzinnigste und Verklärteste, was nur in der Musik erdacht werden könne. Lernen lässt es sich wohl nicht, wie man in so kleinem Raum Unendliches sammeln könne: aber übe man sich in Bescheidenheit in Betrachtung solch hoher dichterischen Vollendung, denn wie es hier vom Herzen quillt, unmittelbar, wie Goethe jenes Urausfließende nennt, übervoll, selig im Schmerz, unnachahmlich.


Nocturnes op. 32

Im Nocturne in H-Dur op. 32/1 findet Chopins Ausdrucksstreben zu einer ungewöhnlichen dramaturgischen Pointe: Der strömende Gesang endet abrupt mit einer fragenden rezitativischen Passage - und sogar mit einem Schlußakkord in Moll. Manche Interpreten wollen das nicht wahrhaben und suchen nach einem versöhnlicheren Dur-Schluß (so zu hören etwa in der Interpretation von Artur Rubinstein).
Nocturne in As-Dur (op. 32/2) steht wieder in der klassisch dreitiligen Form, wobei der aufbegehrende f-Moll-Mittelteil kräftig ausgeweitet ist und die Grundtonart As-Dur erst über einen Umweg erreicht wird: die Wiederkehr des ruhigen Haupttempos und der Eingangs-Melodie wird in fis-Moll vorbereitet.

Nocturnes op. 37

Wie in op. 27 stehen einander hier wiederum zwei tonal eng verbundene, inhaltlich kontrastierende Stücke nebeneinander: der verhaltenen Leidenschaft des g-Moll-Nocturnes (Andante sostenuto) folgt ein poetisches Gegenstück in G-Dur (Andantino).

Nocturnes op. 48

Diese Sammlung beginnt mit einem ungewöhnlich langen Werk, das für ein »Nachtstück« ungewöhnlich heroisch-dramatische Töne anschlägt: Dem kämpferischen Beginn folgt ein sieghafter Mittelteil in strahlendem C-Dur. Die Reprise des c-Moll-Themas scheint aufgewühlt, durch Triolenmotive rhythmisch nervös angestachelt.
In seinem Opus 48 schärft Chopin die Kontrastwirkung auch durch tonale Gegensätzlichkeit: Nocturne in c-Moll (Lento) ist auch harmonisch so weit als auf dem Quintetnzirkel möglich von Nocturn in fis-Moll (Andantino) entfernt.


Nocturnes op. 55

Die beiden Nocturnes op. 55 sind um 1843 entstanden. Nr. 1 in f-Moll paraphrasiert ein weiteres Mal die klassische dreiteilige Form mit einem bewegten Mittelteil, Nr. 2 in Es-Dur aber ist in einem großen ariosen Bogen gearbeitet, dem behutsam eine duettierende Gegenstimme hinzugesellt ist - ein Belcanto-Duett subtilsten Zuschnitts, das, harmonisch reich und voll überraschender Wendungen zuletzt raffiniert in ein Rezitativ mündet, das die Szene fragend beendet. Was vordergründig wie ein typisches romantisches Lied ohne Worte beginnt, wird zu einem faszinierenden akustischen Vexierspiel.

Nocturnes op. 62

Hier verkehrt Chopin das harmonische Spiel von op. 48 ins Ggenteil: Das H-Dur des ersten Stücks (Andante) mündet als Dominante ganz natürlich ins E-Dur des folgenden Lento. Diese beiden Werke ergänzen einander perfekt, zeichnet Chopin doch im H-Dur-Nocturne einen äußerst komplexen melodischen Verlauf, dessen Reprise erst Klarheit bringt: Die Melodie wird dann reich verziert, präsentiert sich allerdings erst hier in ihrer Gesamtheit. Rückblickend erfahren wir, daß der Komponist uns zunächst den eigentlichen Beginn der melodische Phrase vorenthalten hat. Die Musik »erarbeitet« ihn sich quasie während des Stücks. Dagegen setzt die E-Dur-Nocturne einen gut überschaubaren Verlauf mit vier Varianten des fein geschwungenen Eingangsthemas, einem harmonisch kühnen, mit manch kontrapunktischen Details verzierten Mittelteil und eine knappe Reprise beider Elemente. Der Komponist hat zu einem sozusagen schlafwandlerisch sicheren formalen Balancegefühl gefunden.

Nachgelassene Stücke

Drei Nocturnes stehen noch vereinzelt im Oeuvre-Katalog des Komponisten. Op. 72/1 in e-Moll ist ein melancholisches Jugendwerk von 1827 und kam unter der irreführunden Opus-Zahl im Verein mit dem ebenfalls in chopins Teenageralter entstandenem Trauermarsch in c-Moll posthum als Opus 72 in Druck. Die beiden Kompositionen haben überhaupt nichts miteinander zu tun. Ebenso posthum, aber ohne Opuszahlen erschienen die frühen Nocturnes in cis-Moll und c-Moll.


↑DA CAPO