Christoph W. Glucks Theater

In Wien begann die Musiktheaterreform des Christoph Willibald Gluck - und zwar nicht, wie man meinen möchte, mit seiner aufsehenerregend "unbarocken" Vertonung des Orfeo, sondern mit einem Ballett. Glucks Don Juan gilt als das erste "Handlungsballett" der Geschichte und hat Schule gemacht. Und auch wenn man die Partitur nach dem Anfangserfolg erst im XX. Jahrhundert wieder dem Ballettgebrauch zuführte: Eine Melodie aus Glucks Numero 20 blieb über die Jahrhunderte ein Ohrwurm: Don Juans Fandango kehrt in genialer Adaption im Finale des dritten Akts von Mozarts Figaro wieder!

Gluck selbst schrieb 1765 mit Semiramis eine noch kühnere Partitur für eine Ballett-Pantomime, mit der auch Choreograph Angiolini in Ausdrucksregionen vordrang, die in ihrer Modernität erst im XX. Jahrhundert übertroffen werden sollten.

Opern-Revoluzzer Orpheus

Mit seiner Vertonung des alten Orpheus-Mythos hat Gluck dann gleich zweimal entscheidend in die Operngeschichte eingegriffen.
Die erste Fassung des Werks brachte er als kaiserlicher Hofkoponist in Wien heraus und markierte damit das Ende der Barockoper und die Heraufkunft einer neuen, realistischen Operndramaturgie.
Es war der Versuch zweier kluger Theaterköpfe, Glucks und seines Librettisten Ranieri de' Calzabigi, die Oper grundlegend zu revolutionieren:

* Schluss mit dem Koloraturunfug.
*Besinnung auf unmittelbaren Ausdruck von Gefühlen, Seelenzuständen.
* Sänger als Geschichtenerzähler, nicht als Gurgelakrobaten.
Auch wenn das in seiner gedachten historischen Dimension zunächst nur unzureichend funktioniert hat, ohne Glucks Vorstoß könnten wir uns Mozarts singuläre Landnahme auf dem weiten Opernfeld wohl malen; wenn wir könnten...

Freilich hat Gluck in der Folge keineswegs konsequent seinen Reformkurs verfolgt. In Wien brachte er beispielsweise drei Jahre nach dem Orfeo eine Festoper für den kaiserlichen Hof heraus, Telemaco, der wieder in den nichtssagenden Stil seiner zahlreichen früheren Werke verfällt.

Revolution in Paris

Die Neufassung, die Gluck von seinem Orpheus dann für Paris schuf, besorgte aber den in Wien zumindest erahnbaren Paradigmenwechsel für die französische Tragédie Lyrique. Und das konsequent. Bis hin zu seinem letzten Triumph mit Iphigenie auf Tauris blieb er für die Kenner unangefochten der Opernmeister Nr. 1 seiner Zeit.

In der Langzeitfolge inspirierte Gluck sowohl die deutschen als auch der französischen Opernkomponisten des XIX. Jahrhunderts, zu neuen Ufern aufzubrechen.
Mochte dem Ritter Gluck auch die melodische Gabe des jüngeren Kollegen Mozart (der anders als Gluck von den auch ihm verliehenen Ritterehren nie Gebrauch gemacht hat!) versagt geblieben sein, der Ältere weist seinen Solisten doch anschmiegsame Vokallinien zu, die diesen als dankbare Vehikel für gefühlvollen, emotionalen Gesang dienen können.

Erneuerung aus antikem Geist

Aus dem Geist der antiken Tragödie heraus versuchte Gluck, das Musiktheater zu revolutionieren; wenige große Arien, viel orchestral bunt koloriertes Rezitativ - und Schlag auf Schlag folgende Pointen, deren nahtlose Präsentation niemals durch Applaus unterbrochen werden durfte - das war der neue Grundsatz, der sich freilich nicht in stetiger Folge von Werk zu Werk seine Bahn brach, sondern in wiederholten Annäherungen auch Rückgriffe auf die altgewohnten Formen zuließ.

Die Ansprüche waren dann jedenfalls ein halbes Jahrhundert lang nicht mehr so »modern«, bis Richard Wagner sich an dem großen Vorbild ein Beispiel nahm und laut offizieller Geschichtsschreibung seine »unendliche Melodie« erfand - und in seiner musikdramatischen Entwicklung von Werk zu Werk dann keine Rückschritte mehr zuließ.

Zukunftsweisende Szenen

Der Bariton Bo Skovhus, Agamemnon in einer der raren Produktionen der Iphigenie in Aulis im Theater an der Wien, erzählte im Vorfeld der Premiere über seine Erfahrungen mit Glucks Dramaturgie:

Iphigenie in Aulis ist selten, nicht zuletzt weil der Chorpart so ausführlich und schwierig ist. Und vielleicht auch, weil sich Gluck mit seinem Happy End sehr weit von der antiken Vorlage entfernt.
Ideal wäre es natürlich, wenn die Zuschauer ihren Euripides gelesen hätten. Jedenfalls glaube ich, in der großen Szene des Agamemnon spieltdas erste Mal in der Operngeschichte die Psychologie mit.
Hier konnte Mozart anknüpfen.

Auch die Ausdruckskraft mancher Primadonnen-Szene aus Glucks Feder hat auch den Nachgeborenen noch unter Beweis gestellt, worin die Sprengkraft von Glucks Werk lag: Der Monolog der Alceste aus der gleichnamigen Oper, »Divinités du Styx«, war eines der Bravourstücke von Maria Callas. Wenn die Diva es gestaltet, hört man, daß diese Musik im Keim schon den Furor Wagner'scher Monologe birgt.

Der vierte Klassiker

Dieser Wirkungsmacht der Gluck'schen Reformopern waren sich die Zeitgenossen wohl bewußt. Noch nachfolgende Generationen setzten seinen Namen neben den Haydns, Mozarts und Beethovens.
Als man plante, in Wien ein Klassikerdenkmal zu errichten, waren es ganz selbstverständlich diese vier, deren Köpfe in Stein gemeißelt werden sollten.
Anno 1869 eröffnete man die neue Wiener Hofoper nicht nur mit Mozarts Don Giovanni, sondern plante selbstverständlich auch Aufführungen von Glucks Armida, der in der Folge noch zwei weitere Inszenierungen im Haus am Ring waren, bevor man sich nach längerer Pause im XXI. Jahrhundert wieder darauf besann.

Mit Beginn der Originalklang-Epoche begann auch das Schaffen Glucks wieder in den Fokus zu rücken. In der Folge haben sich auch die Regisseure des XX. und XXI. Jahrhunderts an Glucks Opernreformation abgearbeitet. Auch Ballett-Meister → John Neumeier schuf eine eigene Orpheus-Variante zu Glucks Musik und suchte wieder nach der einst in Paris selbstverständlichen Balance zwischen Tanz- und Sprechtheater.

↑DA CAPO