Symphonie Nr. 96 D-Dur

1791
»Mirakel«

Die Kronleuchter in den Hanover Square Rooms


  • Adagio - Allegro
  • Andante
  • Menuett. Allegretto
  • Finale. Vivace
  • Die Symphonie trägt ihren Beinamen (»Das Wunder«) nach einem (zwar nicht erfundenen, aber im Bericht aufgebauschten) Vorfall während eines Konzerts in den Hanover Square Rooms, bei denen sie zur Aufführung gekommen war. Das Publikum soll nach Ende der Symphonie begeistert in Richtung Podium gestürmt sein, um Joseph Haydn zu beklatschen. Währenddessen soll sich einer der Kronleuchter aus der Verankerung gerissen haben und zu Boden gefallen sein. Niemand wurde verletzt.

    Seiner Geliebten Luigia Polzelli berichtete Haydn über die Uraufführung von einem ganz anderen »Wunder«:

    Im ersten Konzert von Herrn Salomon konnte ich Furore mit einer neuen Symphonie machen, von der das Adagio wiederholt werden mußte; dergleichen ist in London noch nie vorgekommen, was glaubst du, was das für eine Senstation war!

    Der Brief ist in mancherlei Hinsicht aufschlußreich - da übereinstimmenden Berichten zufolge immer wieder gerade die langsamen Sätze aus Haydns Londoner Symphonien da capo verlangt wurde, scheint es hier um einen Bericht über das allererste Konzert des Gastspiels zu handeln - möglicherweise war es also die Mirakel-Symphonie und nicht, wie unter anderem von Hoboken angenommen, die Nr. 93 (ebenfalls in D-Dur), die den Reigen der Londoner Symphonien eröffnet hat.

    Das Werk wurde jedenfalls bei verschiedenen Gelegenheiten während Haydns erstem Londoner Aufenthalt wiederholt. Es ist sehr wahrscheinlich, daß sich ein euphorischer Bericht des Morning Chronical im Februar 1792 auf diese Symphonie bezieht:

    The second concert was exceedingly spirited and by the overture of the matchless Haydn was distin- guished above all common competition. Haydn gave a very wonderful composition from the following words in which he combined the strongest effects of his art, horror and pity:

    Hark! the wild uproar of the winds, and hark
    Hell's Genius roams the regions of the dark,
    And thund'ring swells the horrors of the main.
    From cloud to cloud the Moon affrighted flies,
    Now darken'd, and now flashing through her skies –
    Alas! bless'd calm, return, return again.

    Besonderheiten

    Eher für frühere Abschnitte in Haydns Leben charakteristisch ist die Tatsache, daß im ersten Satz dieser Symphonie eine konsequente Mono-Thematik herrscht, also alle thematischen Elemente aus einem Urmotiv heraus entwickelt sind.

    Dem Geschmack des englischen Publikums maßgeschneidert dürfte der Schluß des Andantes sein - die englischen Musikfreunde liebten in jener Zeit die Gattung der Sinfonia concertante, zu der Haydn selbst nur ein Werk beigesteuert hat. Dafür läßt er einige Solisten gegen Ende des langsamen Satzes in einem Überraschung-Coup »konzertieren«

    Das Trio im Menuett wiederum ist ein Gastgeschenk des Österreichers: ein regelrechter Ländler, von der Oboe geführt, von den Streichern so recht »walzernd« begleitet - gegen die Mitte zu freilich, mischt sich das ganze Orchester mit einem kraftvollen Akzent ins Spiel.

    Sprühender Laune gibt sich das Finale, mit einigen amüsanten Volten, die sich aus theatralisch aufgezwirbelten dramatischen Einbrüchen und den nicht immer vorhersehbar getakteten Repetition des Q suart-Auftakts der Violinen ergeben. Hier herrscht der für Haydn charakteristische Humor - für die englischen Hörer vermutlich durchaus »sophisticated« Entsprechend delikat soll das Stück musiziert werden: Haydn empfiehlt »das allerkleinste Piano ... und mit einem sehr geschwinden Tempo«



    Ein schönes Beispiel für eine hinreißend differenzierte, ebenso humorvolle wie tiefschürfende Haydn-Interpretation auf »romantischem« Instrumentarium ist der Livemitschnitt von Bruno Walters Gastspiel am Pult des BBC Symphony Orchestra in London: Saftiges Orchesterspiel bei höchster Transparenz des Stimmengewebes.



    Aus Walters Tagen gibt es auch eine wunderbare Studio-Konkurrenz: Eduard van Beinum hat mit seinem Concertegebouw Orchester in Amsterdam die Mirakel-Symphonie und die Nr. 97 aufgenommen - noch in Mono, aber vom Decca-Team in sattem, schönen Klang dokumentiert. Das hohe Alter der Aufnahme ändert nichts an der Leistung des Teams. Die Lebendigkeit und Prägnanz des Spiels reiht diese Platte in die wichtigsten Haydn-Einspielungen der Aufnahmegeschichte ein. Eines Tages wird man auch noch eine liebevoll digitalisierte Version des derzeit nur in schlampigem Umschnitt erhältlichen Klassikers auf CD finen . . .


    ↑DA CAPO