Symphonie Nr. 60 C-Dur
Il distratto
1774/75
Uraufführungsort: Theater Esterháza
Adagio - Allegro di molto Andante Menuetto e Trio Presto Adagio (di Lamentatione) Finale. Prestissimo
Symphonische Theatermusik
Schon die ungewöhnliche Sechsätzigkeit lehrt den Kenner, daß es sich hier um keine »gewöhnliche« Haydn-Symphonie handeln kann.Tatsächlich hat der Komponist die Ouvertüre und Teile seiner Schauspielmusik zu Jean Francois Regnards Le Distrait (»Der Zerstreute«) für die Verwendung jenseits des Theaters arrangiert und das Werk als Symphonie herausgegeben.
Die Schauspielmusik war seinerzeit ungemein populär, fand beim Publikum glänzende Aufnahme und brachte die Rezensenten ins Schwärmen. Die Preßburger Zeitung sprach 1774 von einem »Meisterwerk, humorvoll, geistreich, intelligent.« Durch Haydns Komposition sei der künstlerische Wert der Komödie erheblich gesteigert worden.
Der Zeitungs-Bericht von 1774
Eszterház, vom 30. Junius. Heute werden hier hohe fremde Herrschaften erwartet. Der modenesische Herr Abgesandte nebst einem der vornehmsten Herrn Italiens. [...] Obgleich Se. fürstl. Durchlaucht abwesend sind, so werden dennoch [...] die vergnügendsten Anstalten gemacht. Heute Abend ist deutsche Komödie [...]. Morgen wird das prächtige Schloss nebst dem Garten, der große neue Redoutensaal, das neue Marionettentheater in Augenschein genommen. Auf dem Abend ist italiänische Opera »L’infdelta delusa«. Die Musik ist von dem Herrn Kapellmeister Joseph Hayden [sic!]. Dieser vortreffiche Thondichter hat auch kürzlich für die Schaubühne des Herrn Wahr zum Lustspiele Der Zerstreute eigene Musik komponirt, welche von Kennern für ein Meisterwerk gehalten wird. Man bemerket in derselben in einer musikalisch-komischen Laune den Geist, welcher alle Heydnischen [sic!] Arbeiten belebt. Er wechselt Kennern zur Bewunderung, und den Zuhörern gerade zu zum Vergnügen meisterhaft ab, verfällt aus der affektuösesten Schwulst ins niedrige, sodaß H[aydn] und Regnard eifern, wer am launischsten zerstreut.Auf Tournee
Die fahrende Schauspielertruppe Carl Wahrs brachte Stück und Musik nach Salzburg und Wien, wo der Erfolg ebenfalls durchschlagend war. Die Tournee hatte in Preßburg (ungarisch: Pozsony, heute als slowakische Hauptstadt Bratislava) begonnen.
Zur enormen Popularität der Schauspielmusik trug vermutlich bei, daß Haydn mehr noch als sonst Anleihe bei der Volksmusik seiner Region genommen hat. Außerdem steckt das Werk in Anspielung auf manche Ereignisse auf der Bühne voller Überraschungen und Wechselbädern der Stimmung.
Im ersten Satz, der mit einer regelrechten Fanfare beginnt, findet sich eine mit perdendosi (»ersterbend«) gekennzeichnete Passage, in der die Musik sich selbst zu vergessen scheint - Sinnbild des »Titelhelden« der Komödie.
Im Andante erleben wir einen Dialog zwischen einer wohlerzogenen jungen Dame und (wiederum durch Fanfarenklänge charakterisiert) einen stürmischen, aber nicht sonderlich gewandten Soldaten, dessen hölzerne Bewegungen eine Zeitlang die Oberhand zu gewinnen drohen.
Im c-Moll-Trio des eleganten Menuetts begegnet uns der zerstreute Titelheld wieder, der immer wieder seinen Gedanken nachzuhängen scheint und auf das Tanzen vergißt.
Mit dem vom c-Moll nach C-Dur modulierenden Presto könnte das Finale der Symphonie erreicht werden. Doch schließen sich noch einige theatralische Effekt an: Zunächst erklingt eine liebliche Serenade, in die plötzlich die Eingangsfanfaren hereinplatzen, während im Verborgenen die Adagio-Melodie weitergesungen worden zu sein scheint. Sie taucht nämlich unbeschadet wieder auf, mündet aber zuletzt in ein jähes Accelerando, auf das unmittelbar das eigentliche Prestissimo-Finale anschließen sollte. Doch nach dessen ersten Takten entdecken die Geiger, daß sie ihre Instrumente nachstimmen müssen. Auf das allgemeine Tohuwabohu folgt die charmante Auflösung des Scherzes.