Das philharmonische Debüt
»Ein Versprechen«

11. April 1992
Die Philharmoniker kommen aus Wien, und Wien ist anders. Also sind auch die Philharmoniker anders. Die in vielerlei Hinsicht Weltbesten sind mit manchem, was anderen Spitzenorchestern selbstverständlich ist, nicht wirklich vertraut. Rhythmisches Raffinement von anno 1936 ist ihnen zum Beispiel wirklich fremd.

So kann ein neuer Star am Dirigentenhimmel, diese Eigenheit nicht ahnend, sich irren und auf die Idee kommen, sich Bela Bartoks »Musik für Saiteninstrumente« für sein Debütkonzert in Wien auszusuchen. Überall anders in der Welt ist diese Komposition schließlich eines der zündendsten aller Virtuosenstücke.

In Wien nicht.

Hier ist auch das allererste Orchester angesichts der vertrackten metrischen Vexierspiele in der Partitur vorrangig mit dem Zählen zwecks Auffindung des richtigen Startplatzes im Achtelraster der Takte beschäftigt. Und niemand, wirklich niemand käme dabei auf den Gedanken, daß mit dieserart absolvierten rasanten Tonfiguren nach so viel strategischem Aufwand auch tatsächlich Musik zu machen wäre.

So richtig Musik, ausdrucksvoll, zündend, vielleicht sogar virtuos. Wie man das mit ähnlichen Tonfiguren so selbstverständlich tut, in anderen Werken, wo sie nicht vorher mit so mathematischer Akribie vom Komponisten ineinander verschachtelt worden sind.

Die »Musik für Saiteninstrumente« geht in Wien nicht. Noch immer nicht. Zumindest die raschen Sätze zwei und vier. In den beiden anderen Abschnitten, vor allem im dritten, nächtlichen, mit seinen dunklen, verzehrend melancholischen Farben, entfalten die Philharmoniker freilich stimmungsvollen Klangzauber.

Zu ihrer Ehrenrettung sei gesagt, daß erfahrungsgemäß auch reisende amerikanische Virtuositätsbomber (aus Philadelphia oder anderswo) den Bartokschen Knoten mit eiserner Disziplin - und viel mehr Probenarbeit - bestenfalls präzis aufdröseln. Mehr als eine »Etüde für Saiteninstrumente« ist diese »Musik für Saiteninstrumente« jedenfalls seit Fritz Reiners Zeiten nicht einmal auf Schallplatte, nicht einmal bei den berühmtesten Dirigenten gewesen.

Und Etüden, da sind Wiener Orchester rigoros und haben ja auch recht, gehören nicht in den Konzertsaal. Mariss Jansons wird die Lehre davon nehmen und sich nächstens das Konzert für Orchester aussuchen. Damit er Bartok ins Programm nehmen kann und dabei trotzdem ähnliche interpretatorische Erfolge erzielen kann wie diesmal mit Tschaikowskys Sechster.

Die »Pathetique« ließ erkennen, was dieser Dirigent mit diesem Orchester zu leisten imstande sein könnte, wenn es zu einer längerfristigen Zusammenarbeit käme. Die Konjunktive stehen da, weil spürbar blieb, wieviel intensiver sich Jansons wohl viele Legatobögen, Staccatopassagen, Crescendi und Diminuendi noch wünscht, wieviel zarter mancher Übergang noch modelliert sein könnte, vor wieviel Spannung manche jetzt einfach stille Generalpause noch vibrieren müßte.

Und das, obwohl die kurze Arbeit mit dem für sie neuen Dirigenten die Philharmoniker zu unerhört differenziertem, klar durchhörbarem und wirklich ausdrucksvollem Spiel animiert hat, obwohl alle fühlen konnten, daß da ein Musiker Außerordentliches erahnt und ein beinahe ohne Einschränkungen wunderbare musizierendes Orchester diese Ahnungen durchaus in die Realität umzusetzen imstande ist.

Die Philharmoniker und Jansons, das war ein aufschlußreiches Konzert, dem denkwürdige folgen könnten. Man muß jetzt nur wollen. Und den richtigen Bartok spielen.


↑DA CAPO

→ SINKOTHEK