16. Juni 2011
Eugen Onegin: Singende Seele
Muziektheater Amsterdam. Mariss Jansons dirigiert Tschaikowskys melancholische Oper, Stefan Herheim inszeniert: ein klingendes Ereignis, ein vollblütiges Seelendrama.
Mariss Jansons als Operndirigent: Das ist vielen Musikfreunden eine Reise Wert. Im Konzertsaal hat der Maestro Weltkarriere gemacht. Musiktheater ist für ihn längst nur mehr Hobby. In Amsterdam frönt er ihm derzeit. Am Pult seines Concertgebouw Orchesters gestaltet er Tschaikowskys "Onegin" als vollblütiges Seelendrama. Die Musiker modellieren weiche, melodische Linien, schwelgen in Klängen, dunkel timbriert - doch auch in der Ausweglosigkeit und Verzweiflung voll Leuchtkraft. Tschaikowsky hat seine eigene Einsamkeit auf die Bühne gebracht, die Unmöglichkeit, sein Leben zu leben, den scheinbar paradoxen Zustand, den er für das Finale seiner Vierten Symphonie in Worte zu fassen suchte: einen Menschen, der im bunten Trubel eines Volksfestes völlig vereinsamen kann.
Wenn Jansons Tschaikowsky dirigiert, dann wird dieses Paradoxon zum klingenden Ereignis. Im Amsterdamer Muziektheater kann man es auch sehen. Denn Stefan Herheim, der Bilderzauberer, hat Regie geführt. Den Glaskubus, den Philipp Fürhofer auf die Bühne gestellt hat, füllt er mit Erinnerungen an die Geschichte des Eugen Onegin. Er selbst träumt sie für uns in Gestalt von Bo Skovhus, der sich zunächst in einem modernen Luxushotel findet, ein Fest wird im großen Salon nebenan gefeiert, zu dem er keine Einladungskarte vorweisen kann. Tanzmusik aus dem dritten Akt erklingt - ein Deja-vu-Erlebnis. Wenn Jansons den Auftakt zum melancholischen Vorspiel gibt, dämmern die Erinnerungen herauf: ans Landleben in der russischen Provinz, an die Marmelade einkochenden alten Tanten und kokett-trällernden Nichten (Elena Maximova), an singende Bauern und arrogante, junge Herren aus der Stadt, die den Mädchen den Kopf verdrehen, um ihnen zuletzt Belehrungen mit auf den Weg zu geben. Erinnerungen auch an sinnlos vom Zaun gebrochene Eifersuchtsszenen und an den Tod im Duell - aus Langeweile provoziert, die wiederum aus dem Mangel an Sinngebung geboren - und immer wieder geboren wird.
Der Fürst oder ein Oligarch, gleichviel
Tatjana, von Onegin verstoßen, ist die starke Figur im Spiel. Krassimira Stoyanova leiht ihr Gestalt und den schönsten, weichsten Sopran, der sich denken lässt. Sie liebt Onegin, sie schreibt ihm einen Brief - und immer lebt er in dieser Rückblende mit, lauscht, fühlt sich hinein in die wunderbare Frauengestalt, leidet mit ihr: all das, was er in der Realität nicht getan hat. Seine Ignoranz bricht ihr das Herz. Doch anders als er lässt sie sich nicht treiben, zieht die Konsequenzen, vermählt sich mit dem Fürsten Gremin - oder einem modernen Oligarchen, gleichviel. Es ist eine alte Geschichte, immer neu.
So verschwimmen in Herheims Spiegelkabinett nicht nur die Szenen der Oper ineinander, sondern auch die Zeiten. Die Bauern erleben die Revolution und die Umsiedlungen, ziehen im Spalier der Soldateska durch Nebellande, während Lenski (Andrej Dunaev) seine todtraurige Arie sauber, aber nicht so ausdrucksstark singt, wie es sein könnte. Die Puppen tanzen, aber auch die Kosmonauten; die rote Fahne weht und die russische Trikolore, die Popen und die sowjetischen Leistungssportler, der weiße und der schwarze Schwan. Der russische Bär inmitten, allzeit gutmütig und zeitlos täppisch. Gesine Völlm hat das Panoptikum liebevoll von Saeculum zu Saeculum eingekleidet.
Die Schicksale bleiben immer die gleichen. Tatjana lebt an der Seite ihres orgelnden Bassisten-Ehemanns - Mikhail Petrenko preist die "Lieb auf Erden" im profundesten Register. Im abschließenden Dialog mit Onegin findet Stoyanova im Verein mit den Concertgebouw-Musikern ungemein innige Töne: Die Liebe, ja die Liebe, die hätte es geben können, eine Hand breit lag sie entfernt. Herheims Kunst macht's möglich, dass inmitten des turbulentesten Theatertrubels Raum bleibt für die Entfaltung poetischer Momente, ganz aus der Musik geboren. Plötzlich ist kein szenisches Tohuwabohu mehr, sondern nur singende Seele. Bo Skovhus steigert seinen Gesang denn auch zu höchster Intensität - und bleibt am Ende neben der starken Frau, die sich in ihr Schicksal ergeben hat, als Hanswurst zurück. Die Pistole, die man ihm in die Hand gedrückt hat, ist nicht geladen. Er schießt ins Leere, wie er sein ganzes Leben verpulvert hat. Ein großer Opernabend.
Wenn Jansons Tschaikowsky dirigiert, dann wird dieses Paradoxon zum klingenden Ereignis. Im Amsterdamer Muziektheater kann man es auch sehen. Denn Stefan Herheim, der Bilderzauberer, hat Regie geführt. Den Glaskubus, den Philipp Fürhofer auf die Bühne gestellt hat, füllt er mit Erinnerungen an die Geschichte des Eugen Onegin. Er selbst träumt sie für uns in Gestalt von Bo Skovhus, der sich zunächst in einem modernen Luxushotel findet, ein Fest wird im großen Salon nebenan gefeiert, zu dem er keine Einladungskarte vorweisen kann. Tanzmusik aus dem dritten Akt erklingt - ein Deja-vu-Erlebnis. Wenn Jansons den Auftakt zum melancholischen Vorspiel gibt, dämmern die Erinnerungen herauf: ans Landleben in der russischen Provinz, an die Marmelade einkochenden alten Tanten und kokett-trällernden Nichten (Elena Maximova), an singende Bauern und arrogante, junge Herren aus der Stadt, die den Mädchen den Kopf verdrehen, um ihnen zuletzt Belehrungen mit auf den Weg zu geben. Erinnerungen auch an sinnlos vom Zaun gebrochene Eifersuchtsszenen und an den Tod im Duell - aus Langeweile provoziert, die wiederum aus dem Mangel an Sinngebung geboren - und immer wieder geboren wird.
Der Fürst oder ein Oligarch, gleichviel
Tatjana, von Onegin verstoßen, ist die starke Figur im Spiel. Krassimira Stoyanova leiht ihr Gestalt und den schönsten, weichsten Sopran, der sich denken lässt. Sie liebt Onegin, sie schreibt ihm einen Brief - und immer lebt er in dieser Rückblende mit, lauscht, fühlt sich hinein in die wunderbare Frauengestalt, leidet mit ihr: all das, was er in der Realität nicht getan hat. Seine Ignoranz bricht ihr das Herz. Doch anders als er lässt sie sich nicht treiben, zieht die Konsequenzen, vermählt sich mit dem Fürsten Gremin - oder einem modernen Oligarchen, gleichviel. Es ist eine alte Geschichte, immer neu.
So verschwimmen in Herheims Spiegelkabinett nicht nur die Szenen der Oper ineinander, sondern auch die Zeiten. Die Bauern erleben die Revolution und die Umsiedlungen, ziehen im Spalier der Soldateska durch Nebellande, während Lenski (Andrej Dunaev) seine todtraurige Arie sauber, aber nicht so ausdrucksstark singt, wie es sein könnte. Die Puppen tanzen, aber auch die Kosmonauten; die rote Fahne weht und die russische Trikolore, die Popen und die sowjetischen Leistungssportler, der weiße und der schwarze Schwan. Der russische Bär inmitten, allzeit gutmütig und zeitlos täppisch. Gesine Völlm hat das Panoptikum liebevoll von Saeculum zu Saeculum eingekleidet.
Die Schicksale bleiben immer die gleichen. Tatjana lebt an der Seite ihres orgelnden Bassisten-Ehemanns - Mikhail Petrenko preist die "Lieb auf Erden" im profundesten Register. Im abschließenden Dialog mit Onegin findet Stoyanova im Verein mit den Concertgebouw-Musikern ungemein innige Töne: Die Liebe, ja die Liebe, die hätte es geben können, eine Hand breit lag sie entfernt. Herheims Kunst macht's möglich, dass inmitten des turbulentesten Theatertrubels Raum bleibt für die Entfaltung poetischer Momente, ganz aus der Musik geboren. Plötzlich ist kein szenisches Tohuwabohu mehr, sondern nur singende Seele. Bo Skovhus steigert seinen Gesang denn auch zu höchster Intensität - und bleibt am Ende neben der starken Frau, die sich in ihr Schicksal ergeben hat, als Hanswurst zurück. Die Pistole, die man ihm in die Hand gedrückt hat, ist nicht geladen. Er schießt ins Leere, wie er sein ganzes Leben verpulvert hat. Ein großer Opernabend.