Anton von Webern

Werke für Streichquartett

Fünf Sätze op. 5

Heftig bewegt
Sehr langsam
Sehr bewegt
Sehr langsam
In zarter Bewegung

Mit den knappen Fünf Sätzen op. 5, die 1929 in einer Bearbeitung für Streichorchester vorgelegt wurden, begann Webern seine in Vokalkompositionen erprobten Experimente im tonal freien Raum auf die Instrumentalmusik. Ohne führende Stütze eines gesungenen Textes reduziert sich die Musik nun auf ein Minimum an Ausdehnung: Eine musikalischen Aussage muß beim ersten Erklingen ihre ganze Ausdruckskraft entfalten - und die volle Aufmerksamkeit des Hörer gelten. Es gibt keine Wiederholungen mehr; im Falle der Stücke op. 5 aber immerhin noch andeutungsweise eine Verarbeitung und Weiterführung einzelner Gedanken, die noch knappe Andeutungen alter Formmuster sein könnten:
Nr. 1 ein »Sonatensatz«
Nr. 2 ein stilles Duett zwischen Bratsche und Cello
Nr. 3 ein jäh gestikulierendes Intermezzo, wenn auch andeutungsweise dreiteilig strukturiert
Nr. 4 ein nächtlich flüsterndes Scherzo
Nr. 5 ein Finale, in dem sich die zunächst kernig markante Musik nach in sich kreisenden Ostinati gänzlich aufzulösen scheint.


Die Aufführung der fünf Sätze nimmt etwa zehn Minuten in Anspruch und erfordert nicht nur von den Ausführenden höchste Konzentration, sondern auch vom Publikum. Ein Stück wie Nr. 3 ist beinah schon wieder vorbei, ehe man wahrgenommen hat, daß es bereits begonnen hat.

Ein interessantes Phänomen ist, daß Webern selbst die Aufführungsdauern für seine Werke meist länger ansetzt, als sie tatsächlich beanspruchen. Über Opus 5 schreibt er 1919 an Berg, der einen Aufführungsabend mit dem Rosé-Quartett arrangierte, bei dem unter anderem sein zweisätziges Streichquartett op. 3 zur Aufführung kommen sollte:
Ich habe nur das nicht recht verstanden: Sollen von mir nur die Violinstücke kommen? Doch auch das Quartett. Die Stücke für Geige dauern nur 5', das Quartett 15 o. 13'. Das wird nicht zuviel sein ... Ich bitte Dich, schau, daß es dazu kommt, daß auch mein Quartett gespielt wird. Rosé kennt es ja jetzt, da ich es ihm im September vorgespielt habe. Er wollte es vor einiger Zeit probieren; leider war ich nicht mehr in Wien. Ich bin überzeugt, daß er es spielt. Dein Quartett kenne ich leider kaum. An den einen Satz, den Du mir vorgespielt hast, erinnere ich mich wohl teilweise, aber den anderen Satz kenne ich gar nicht. (Ist er schnell oder langsam?). Ich erwarte mir sehr viel davon. Sehr viel ---

Sechs Bagatellen op. 9

Mäßig
Leicht bewegt
Ziemlich fließend
Sehr langsam
Äußerst langsam
Fließend

1911 berichtet Webern seinem Freund Berg aus Danzig:
Ich habe jetzt ein Streichquartett fertiggestellt. Es sind vier Sätze.
Legt man auch nur die vier längsten Sätze der Sechs Bagatellen zugrunde, die aus diesem Streichquartett letztendlich durch Hinufügung zweier weiterer Stücke wurden, dann hätte dieses avisierte Werk in seiner viersätzigen Gestalt gerade einmal drei Minuten Aufführungszeit in Anspruch genommen. Die Bagatellen, wie Webern sie zuletzt als sein Opus 9 in Druck gab, dauern zusammengenommen nur vier bis viereinhalb Minuten. Die Ästhetik der Reduktion ist hier auf ein absolutes Minimum zurückgenommen. Radikaler hat selbst Webern nie wieder komponiert: Jedes der Stücke führt einen Gedanken aus - nicht mehr, aber auch nicht weniger. Diese Ästhetik versuchte der Komponist auch auf seine folgenden Werke zu übertragen, die konsruktiv allerdings duch die Anverwandlung von Arnold Schönbergs Zwölftonmethode einen architektonischen Halt gewinnen, daß wieder Musik von größerer Ausdehnung möglich wurde.

Das Streichquartett op. 28

1. Mäßig
2. Gemächlich
3. Sehr fließend

Zum Streichquartett kehrte Webern in seiner Zwölftonphase mit seinem Op. 28 noch einmal zurück.

Aufschlußreich - auch mit Blick auf Weberns notorisch deutschnationale Gesinnung - ist ein Brief, den er kurz nach dem Einmarsch der deutschen Truppen in Österreich im Frühjahr 1938 an seinen bevorzugten Quartett-Primarius, Rudolf Kolisch, nach Vollendung der Partitur schreibt. Wiederum »überschätzt« er die Aufführungsdauer seines Werk gewaltig: Statt der von ihm angegebenen 20 dauert eine Aufführung in der Regel etwa sieben bis acht Minuten! Bemerkenswert jedenfalls die immensen strukturellen Verquickungen, die Webern hier durch die strenge Anwendung der Zwöftonmethode herzustellen versuchte. Für den Hörer sind solche Details auch bei wiederholtem Hören kaum auszumachen - doch nützt die Lektüre des Briefes, immerhin die Intentionen des Komponisten zu begreifen.
Mein lieber, guter Kolisch, mein Quartett ist fertig! Gerade in den Tagen der Ereignisse habe ich es zu Ende gebracht.

Es gibt einen so herrlichen Satz von Goethe: daß »unsereinem« nur geziemt ein Werk nach dem anderen hervorzubringen u. daß alles Andere »von Übel« ist. Das Quartett ist dreisätzig geworden.

Es ist freilich wieder nicht ein sehr umfangreiches Werk geworden - Dauer gegen 20 Minuten — aber ich habe es mir wohl nicht leicht gemacht: Vielleicht ist mir wirklich schon sehr die Verbindung der beiden Darstellungs-Arten — der »horizontalen« u. »vertikalen«, wie Schoenberg sie nennt - gelungen.

...

Ich muß gestehn, daß ich kaum jemals einer Arbeit von mir gegenüber ein so gutes Gefühl ... gehabt habe, wie diesmal.

Aber in der Mitte steht schon ein recht langer Satz: ein Adagio in breitem a la breve - im Grunde ist es ein Variationen-Satz, aber die einzelnen Variationen sind funktionell die Glieder einer Adagio-Form, mit Hauptthema, Überleitendem, Seitengedanken u. Reprise [Coda]; so ist es eine Verschmelzung der Darstellungs-Prinzipien von Variationen-Satz u. Adagio-Form! Alles rein polyphon [canonisch, mit Augmentation u. Diminution, welche beiden Momente den ganzen Satz beherrschen].

Vor und nach diesem Adagio stehn zwei Sätze, die in ihrer Form mehrdeutig aufgefaßt werden können. Es ist so, daß der dem Adagio folgende formal gleichsam die Erfüllung des diesem vorangehenden bringt. Im Grunde ist es ein Scherzo, dessen Durchführungsteil aber eine Fuge [Doppel-Fuge] bringt, als deren dritte Durchführung die Reprise des Scherzo-Themas erscheint. [Ich möchte sagen, wenn jemals eine Reprise begründet war, so ist es diese.] Eine dritte Durchführung mit einem Doppel-Kanon u. obendrein im Krebs [Thema u. Gegenthema] als »Engführung«! Ja, so erscheint nämlich schon das Thema dieses Scherzos! Es ist - als Finale - auch ein ziemlich langes Stück geworden. Ich glaube, Du mußt verblüfft sein, wenn ich Dir einmal die Beziehungen, die darin sind, aufzeige [aber ich bin überzeugt, daß Du natürlich Vieles selber herausfinden wirst.] u. Du diesen »Konstruktionen« gegenüber Ausdruck u. Charakter des Stückes bedenkst. Es ist alles zart, ganz zart!

Interessant ist, daß Webern den Eingangssatz seines Quartetts in seinem Brief an Rudolf Kolisch zuletzt behandelt und dabei expressis verbis erneut von einem Scherzo spricht. Tatsächlich stand dieser mit Mäßig überschriebene Satz im ursprünglichen Manuskript an dritter Stelle zwischen dem zweiten Satz und dem Finale der Letztfassung. Offenbar war ursprünglich noch ein anderer Satz als Kopfsatz des Quartetts vorgesehen.

Der erste Satz nun ist ein Miniatur-Rondo, oder eben auch ein Scherzo mit Trio! Das erste Thema ein unendlicher vierstimmiger Kanon, aber trotzdem in seiner Form ein „Satz" [streng nach klassischem Prinzip] von 18 Takten; also Verbindung der beiden Darstellungs-Arten auch hier, wie sonst überall in dem Quartett; aber ein Kanon, in dem sich alles spiegelt obendrein, in kleineren Räumen; was hin geht, geht im nächsten Augenblick anderswo zurück u.s.w. aber alles im Einklang mit dem Bau eines „Satzes". [Konstruktive, rein konstruktive Verwendung der „Reihen"; das ist der Schlüssel zu Allem!"] Nun kommt das zweite Thema des Satzes, gewissermaßen das Trio. [Ein 3/8 gegenüber einem 2/4 - wie ein langsamer Walzer zu einer ganz bedächtigen Polka; das tempo dieser Polka ist sehr heiklig, muß ganz, ganz »gemächlich«, so meine Tempovorschrift, sein.] Also dieses 2. Thema: es ist periodisch geformt, aber auch hier alles canonisch, sich spiegelnd u.s.w. Ihm folgt wieder unmittelbar — mit glaube ich besonders wirksamen Anschluß - das erste Thema, aber nun ist alles, alles umgestellt [übrigens sind in allen drei Teilen des Stückes dieselben »Reihen« verwendet] Von gewissen Einschnitten läuft gegenüber dem erstenmale das Ganze zurück; bis auf den Schluß der hier in eine »Stretta« verwandelt ist, mit der das ganze Ding hinausfliegt. ----Als Ganzes mußt Du das »Quartett« in seiner formalen Erscheinung so aufnehmen, wie es so manche der dreisätzigen Beethovenschen Klavier-Sonaten sind! In diesem Sinne habe ich zu gestalten versucht. [Schau Dir diese Satz-Formen bei Beethoven einmal recht genau an!] Also ich glaube, es fehlt hier nichts, wenn ich nur dreisätzig bin in meinem Quartett!

↑DA CAPO