Anton von Webern

Orchesterwerke

Passacaglia op. 1

Die Passacaglia op. 1 ist sozusagen Weberns Gesellenarbeit, mit der er seine vierjährige Lehrzeit bei Arnold Schönberg abschloß. Die barocke Form, eine Reihe von langsamen Variationen über einem gleichbleibenden Ostinato, bleibt streng gewahrt. Vorbild für die Komnposition ist der Finalsatz von Johannes Brahms’ Vierter Symphonie. Wie dort das barocke Form-Muster in die romantische Tonsprache integriert wird, schreibt Webern expressionistische Musik, deren Harmonik sich den Rändern des tonal noch Faßbaren zubewegt.
Thema
Das achttaktige, aus acht Tönen bestehende Thema, von Streichern pizzicato exponiert, enthält an vierter Stelle ein As, das in d-Moll nicht vorkommt. Aus der tonalen Spannung, die dadurch schon im Ansatz des Werks entsteht, schöpft Webern in der Folge immer neue Energie, den harmonischen Raum zu weiten.

Überdies integriert er die Passacaglia-Form in das übergeordnete Schema des klassischen Sonatensatzes. So kommen einzelnen Gruppen von Variationen die Rollen der Formteile der Sonate zu.
Variationen 1 - 11
Hauptsatz, d-Moll
Variationen 12 - 15
Seitensatz und Schlußgruppe, D-Dur
Variationen 16 - 19
Durchführung
Variationen 20 - Schluß
Reprise und Coda

Allerdings gehorcht Webern dem Postulat Schönbergs, demzufolge sich in der Musik jener Epoche nichts wörtlich wiederholen dürfe. Doch sind die quasi impressionistischen Effekte des Dur-Themas bei seiner Wiederkehr auch für den unvorbereiteten Hörer gut wieder zu erkennen und tragen wie die abrundende Wiederaufnahme der Stimmungswelt der ersten Takte am Ende der Passacaglia dazu bei, daß der Formverlauf beim ersten Hören instinktiv erfaßt werden kann.

Fünf Sätze op. 5

Mit den knappen Fünf Sätzen op. 5, die 1929 in einer Bearbeitung für Streichorchester vorgelegt wurden, begann Webern seine in Vokalkompositionen erprobten Experimente im tonal freien Raum auf die Instrumentalmusik. Ohne führende Stütze eines gesungenen Textes reduziert sich die Musik nun auf ein Minimum an Ausdehnung: Eine musikalischen Aussage muß beim ersten Erklingen ihre ganze Ausdruckskraft entfalten - und die volle Aufmerksamkeit des Hörer gelten. Es gibt keine Wiederholungen mehr; im Falle der Stücke op. 5 aber immerhin noch andeutungsweise eine Verarbeitung und Weiterführung einzelner Gedanken, die noch knappe Andeutungen alter Formmuster sein könnten:
Nr. 1 ein »Sonatensatz«
Nr. 2 ein stilles Duett zwischen Bratsche und Cello
Nr. 3 ein jäh gestikulierendes Intermezzo, wenn auch andeutungsweise dreiteilig strukturiert
Nr. 4 ein nächtlich flüsterndes Scherzo
Nr. 5 ein Finale, in dem sich die zunächst kernig markante Musik nach in sich kreisenden Ostinati gänzlich aufzulösen scheint.


Sechs Stücke op. 6

Die Sechs Stücke op. 6, ebenfalls 1909 entstanden, nehmen die Herausforderung an und übertragen den Reduktionsprozeß auf einen riesigen - eine einer späteren Überarbeitung (1928) deutlich reduzierten - Orchesterapparat.
Hier wird ein Mahler-Orchester dazu angehalten, Kammermusik zu machen.
I. Aus Flöten- und Hornsoli heben sich in Nr. 1 leidenschaftliche Streicherklänge, die über einem Trompetensolo, das bestätigend sogar ein zweites Mal erklingt, ersterben.
II. Treibt ein ähnliches Spiel zu grell dissonierenden Entladungen in Blech und Schlagwerk.
III. Nr. 3 beginnt mit einem melancholischen Bratschensolo, dem nur knappe Einwürfe von Flöte und Celesta greifbare Antworten entgegensetzen. In den elf Takten dieses Stücks erreicht Webern die äußerste Introversion.
IV. Dazu bildet das vierte Stück den denkbar stärksten Kontrast. Hier nimmt sich Webern Zeit für ein immenses orchestrales Crescendo: Ein Trauermarsch, der aus unscheinbaren, wie von ferne klingenden Schlägen von Tam-Tam und Gong und einigen vereinzelten Bläsereinsätzen zu höchster Verdichtung anwächst, um im infernalischem Fortissimo jäh abzubrechen.
V. Wie in Schreckstarre suchen in der Folge Blechbläser und Streicher, danach auch Harfenklänge nach Ausdrucksmöglichkeiten, verlieren sich aber in einem ätherischen Klangkreisel von gestopfter Trompete, Celesta und Glockenspiel.
VI. Ein knapper Epilog, beginnend mit einem vergleichsweise konsistenten Englischhorn-Solo, das nach einem Dialog zu suchen scheint. Wiegende Celesta- und Harfentöne sorgen für einen geradezu poetischen Abschluß.


Stücke op. 10

In der Folge verfeinerte Webern die Kunst der Reduktion noch weiter und arbeitete an zahlreichen Orchesterstücken, aus denen er fünf unter der Opuszahl 10 veröffentlichte.
I. Ein Beispiel für musikalischen Pointilismus: Die Musik fragmentiert sich in Einzeltöne.
II. Ebenso kurz, aber durch plötzliche Steigerungen dramatisch zugespitzt.
III. Gespenstisch zurückgenommen mit Harfe und Mandoline, behutsam verdichtet und rasch wieder in einem gedämpften Trommelwirbel ersterben.
IV. Erinnerungen an eine Serenade - mit Mandoline, Klarinette und Violine
V. Aus zarten Celesta-Tönen hebt sich ein überstürztes, heftig attackierendes Fortissimo, dem nach kurzem Innehalten eine geradezu kapriziös hingetupften Schlußgeste folgt.



Symphonie op. 21

Weberns Symphonie war ursprünglich – wie etwa auch das Streichtrio (op. 20) dreisätzig angelegt. Doch beließ es der Komponist zuletzt bei zwei Sätzen, deren erster - analytisch betrachtet, wenn auch für den Hörer kaum nachvollziehbar - dem klassischen Sontatenprinzip folgt, während der zweite eine Folge von Variationen darstellt.

Wer die Partitur mitliest, erkennt an den vorgeschriebenen Wiederholungen im Kopfsatz die klassische Sonatenform. Hörend erlebt man die »Reprise« jedoch eher als das Auftreten einer neuen Klangfarbe: Während die Musik zunächst im dunklen tiefen Register beheimatet war, löst sie sich zuletzt in die Höhen des Diskant auf.

Auf dem Papier eher als beim Hören ist auch die strenge polyphone Arbeit Weberns zu erkennen: Im ersten Satz der Symphonie arbeitet er mit strengen Kanons. Im zweiten Satz wiederum spiegeln sich die Töne jeder Variation in der Mitte und laufen krebsgängig wieder zurück zum Anfangston. Entsprechend konstruktiv ist schon die Zwölfton-Reihe gebaut. Sie nimmt die rückläufige Struktur der Variationen quasi vorweg:
Auch hier dreht sich die Intervallfolge, um einen Tritonus transponiert und läuft von der Mitte zum Anfang zurück.

Den Ausführenden gab Anton von Webern für seine Musik einen Ratschlag mit auf den Weg der angesichts der Konstruktivität seiner Werke befremden mag, aber nicht beiseite gewischt werden sollte:
Schwelgt in Klängen, dann tut ihr recht, Dirigenten!


In einem Brief schreibt er in der Zeit der Entstehung der Symphonie:
ich verstehe unter ‚Kunst’ die Fähigkeit, einen Gedanken in die klarste, einfachste, das heißt ‚fasslichste’ Form zu bringen. ... Und deswegen habe ich nie verstanden, was ‚klassisch’, ‚romantisch’ und dgl. ist, noch habe ich mich in einen Gegensatz zu den Meistern der Vergangenheit gestellt, sondern mich immer nur bemüht, es diesen gleich zu machen: das, was mir zu sagen gewährt ist, so klar als möglich darzustellen. Was freilich etwas anderes ist, als etwa der heutige ‚Klassizismus’, der den Stil kopiert, ohne um dessen Sinn (und das ist das oben Angedeutete) zu wissen, während ich (Schönberg, Berg) diesen Sinn – und er bleibt ewig der gleiche – mit unseren Mitteln zu erfüllen trachte. Und da entsteht dann wohl keine Copie, sondern eben darum erst das Ureigenste.



Variationen op. 30

Die Variationen sind Anton von Weberns letztes Instrumentalwerk, komponiert 1940, uraufgeführt 1943 unter Hermann Scherchen in Winterthur: Die letzte öffentliche Aufführung eines seiner Werke, der Webern erlebt hat. Gegenüber der Symphonie, in der sich die spärlichen Linien, Zeichen und Punkt puristisch, vereinzelt über den Orchestersatz zu verteilen scheinen, instrumentiert Webern in den Variationen wieder »orchestraler« verdoppelt sogar hie und da einzelne Stimmen, um spezielle klangliche Färbungen zu erreichen. Auch gibt es verstärkt wieder »akkordische« Strukturen, wodurch die Musik auch harmonisch wieder mehr Gewicht annimmt.

Formal beschreibt der Komponist sein Werk in einem Brief an Willi Reich als eine Art Ouvertüre. Und weiter:
Das Thema der Variationen ... hat ... ‚einleitenden’ Charakter. – Es folgen sechs Variationen ... Die erste sozusagen das Hauptthema der Ouvertüre (Andanteform) in voller Entfaltung bringend; die zweite die Überleitung, die dritte den Seitensatz, die vierte die Reprise des Hauptthemas – es ist ja eine Andanteform! – aber in durchführender Art, die fünfte, Art der Einleitung und Überleitung wiederholend, führt zur Coda: sechste Variation.
Wie bei den vorangehenden Kompositionen ist freilich auch in den Variationen konzentrierteste motivisch-thematische Arbeit, ausgehend von der Zwölftonreihe, grundlegend. Webern an Reich:
Alles nun, was in dem Stück vorkommt, beruht auf den beiden Gedanken, die mit dem ersten und zweiten Takt gegeben sind (Kontrabaß und Oboe)! Aber es reduziert sich noch mehr, denn die zweite Gestalt (Oboe) ist schon in sich rückläufig: die zweiten Töne sind der Krebs der ersten zwei, rhythmisch aber in Augmentation. Ihr folgt, in der Posaune, schon wieder die erste Gestalt (Kontrabaß), aber in Diminution und im Krebs der Motive und Intervalle. So nämlich ist meine Reihe gebaut.



↑DA CAPO