Weberns Liedschaffen
Lieder op. 3
Nach der noch durchaus nach den Regeln der Dur-Moll-Tonalität zu »entziffernden« Passadaglia op. 1 erschließt sich Anton von Webern mit diesen Lieder den freitonalten Raum und vertont die Gedichte als expressionistischen Miniaturen, die auch rhythmisch-metrisch frei fließend dem Text angepaßt sind. Typisch für Webern wird die fast durchwegs im leisen und kaum mehr hörbaren Bereich angesiedelte Dynamik werden. Nur im zweiten Lied reicht das Ausdrucksspektrum in die Regionen des Forte und Fortissimo. Die Singstimme muß weite Sprünge absolvieren, oft in Septimen und Nonen, was die später kultivierte Vokalästehtik dieses Komponisten vorausahnen läßt.Fünf Lieder op. 4
Hier scheint Webern nach den kühnen, von der expressiven Linie getragenen Stilistik der Lieder op. 3 noch einmal einen Schritt zurück in Richtung Dur- und Moll-Tonalität. Obwohl - wie schon in der Passacaglia für Orchester - der harmonische Raum stark ausgeweitet wird, bleiben die einigenden Kräfte zentraler Akkorde, die immer wiederkehren, spürbar.Lieder op. 8
Mit diesen beiden Vertonungen von Gedichten aus Rainer Maria Rilkes Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge schuf Anton von Webern im Jahr 1910 seine ersten Lieder für Singstimme und Instrumentalensemble. Gegenüber den ausdrucksstarken, oft jäh hochfahrenden Miniaturen der kammermusikalischen Instrumentalwerke op. 5 bis 7 sind diese vokalen Kammermusiken eher wieder dem verhalten lyrischen Stil der klavierbegleiteten Lieder op. 3 und 4 verpflichtet. Die Instrumente werden nur sehr sporadisch verwendet, doch sorgt ihre Aufsplitterung für farbliche Differenzierung, zu der ein Klavier nicht fähig ist. Insofern führt Webern hier den klangbetonten aphoristischen Stil seiner Kammermusik weiter.Nur in ausgewählten Momenten etwa im Geigensolo des zweiten Lieds, tritt ein Instrument mit längeren Melodiebögen hervor. Die Singstimme hingegen deklamiert Rilkes Text klar und flexibel, in großzügigen melodischen Bögen - allerdings über einem tonal nicht mehr faßlichen harmonischen Grund.
Lieder op. 12
In dieser Sammlung finden sich jene Liedkompositionen aus Weberns Reifezeit, die am ehesten an romantische Klavierlieder erinnern.Lieder op. 13
Diese Lieder sind die substantiellsten, die Webern je geschrieben hat (was ihre Länge und musikalische Entwicklung wie auch ihren instrumentalen Wohlklang betrifft). Dem Ensemble der instrumentalsolisten ist eine weitaus bedeutendere Rotte zugewiesen als dem Kammerorchesterensemble in den "Zwei Liedern" Op. 8. Hier ist die Stimme nahezu Primo inter pares. Auch hier erreicht Webern eine äußerst hohe Expressivität der Wortmaterei -eine geradezu magische Qualstät/die iedoch~bald zugunsten sehr viel ^fferenzierterer expressiver Verfahrensweisen aufgegeben werden sollte.Sechs Lieder Op. 14
Mit diesen Kompositionen geht Anton von Webern dazu über, die Singstimme nicht mehr vom Klavier sondern von wechselnden Instrumentalensembles begleiten zu lassen. Innerhalb der mittlerweile kaum noch tonal faßbaren Harmonik ermöglicht ihm das, auch die Instrumentalstimmen vollkommen frei und unabhängig voneinander zu führen - und immer neue Farbkombinationen zu suchen. Die Text-Behandlung führt weg vom Expressionismus in zu einer »objektivierenden« Stimmführung, die nicht mehr direkt von den Dichterworten abhängig scheint.Nur im ersten und dritten der Lieder nutzt Webern das gesamte Instrumentalensemble. Lied Nr. 2 ist für Boßklorinette und zwei Streicher gesezt, Nr. 4 für zwei Klarinetten und Violoncello, Nr. 5 für Klarinetten und Geige. Die Singstimme ist in all diesen Gesängen Primus inter pares, aber tatsächlich Teil eines kontrapunktisch komplexen Geflechts.
Fünf geistliche Lieder Op. 15
Auch hier wechselt die Instrumentalbesetzung von Lied zu Lied wie im vorangehenen Zyklus op. 14. Anders als dort dominiert in op. 15 allerdings die Sopranstimme deutlich gegenüber der »Instrumentalbegleitung«. Das letzte Lied führt Gesangsolo und Instrumente in einem streng gebauten Doppelkanon.Lieder op. 18
Ich habe jetzt das zweite dieser Liederreihe fertig, ‚Erlösung’ aus Des Knaben Wunderhorn. Das dritte wird ein lateinisches Lied (Marienlied): ‚Ave, Regina coelorum’ ... Die ‚Zwölftonkomposition’ ist mir jetzt eine bereits vollkommen klare Sache. Natürlich sind diese Lieder alle darin geschrieben. Und diese Arbeit bereitet mir Vergnügen wie noch selten zuvor.Also schrieb Anton von Webern an seinen Freund Alban Berg im Jahr 1925. Wobei die Reihen-Technik für Webern als Mittel der Textausdeutung diente: Die Worte Gottes, der Gottesmutter Maria und jene von Christus werden jeweils in verschiedenen Lesarten der Zwölftonreihe vertonte.
Für die Interpreten zählen die Lieder zu den heikelsten Aufgaben. Die Intervallsprünge, die der Singstimme zugemutet werden, haben in der Literatur kaum Ihresgleichen. Auch hier finden sich freilich ungewöhnliche Assoziationen zur Tradition. So hat der Wiener Musikwissenschaftler Manfred Angerer gezeigt daß die haarige Sprung-Melodik beim Wort »Nagerlstock« im Lied Nr. 1 (e’ – cis’’’ – d’’ – es’) eine »extreme Übersteigerung von jodlerartigen Figuren« darstellen könnte. Die Assoziation ist vielleicht nicht zu weit hergeholt, hat doch der Komponist seine Lieder ungewöhnlicherweise für Singstimme, hohe Klarinette und Gitarre gesetzt - eine Besetzung, die mit der wienerisch-volksmusikalischen Tradition der »Schrammelmusik« harmoniert!
Aufgeführt wurden die Lieder erst lang nach Weberns Tod: Die Uraufführung im Jahr 1954 leitete Robert Craft in Los Angeles.
Lieder op. 23
Die Lieder op. 23 entstehen am Schnittpunkt vor der Komposition der vergleichsweise großangelegten Arbeiten der letzten Dekade in Weberns Schaffen. Es sind die ersten Gesänge nach Texten der Freundin Hildegard Jone die ab sofort die Vorlagen für sämtliche Vokalwerke des Komponisten liefern wird.Nach Versuchen mit unterschiedlichen Instrumentalkombinationen kehrt Webern zur Klavierbegleitung der Singstimme zurück. Die Anforderungen an den Sänger werden im Vergleich zu den kühnen, mit extremen Intervallsrüngen angereicherten Setzweise der Lieder der mittleren Phase wieder ein wenig zurückgenommen. Insgesamt ist der Ton schlichter und auf faßliche melodische Linienführung ausgerichtet. Das ermöglicht deutliche Kontrastierungen von »Themen« und ebenso deutliche »Reprisen«-Wirkungen. Der Hörer mag sich auch an Elementen wie dem im Mittelteil des ersten Liedes anklingenden Walzerrhythums orientieren, oder an der deutlichen Strophenstruktur des zweiten Liedes mit seinen instrumentalen Zwischenspielen in durchaus gelöstem, lichten Tonfall.