Anton von Webern

Die Kantaten

Zwei Kantaten hat Anton von Webern veröffentlicht. Beide stammen aus seiner Zwölfton-Phase und repräsentieren seine Versuch traditionelle Formen mit einer völlig neuen, aphoristischen Klangsprache zu vereinen.

Kantate Nr. 1

Die etwa achtminütige Kantate Nr. 1 besteht aus drei kurzen Sätzen, deren erster durch stetem Wechsel zwischen A-Cappella-Chor und orchestralen Zwischenspielen strkturiert wird. Ungewöhnlich für Webern, dessen Musik in der Ära vor dieser Kantate zunehmend auf Einzeltöne reduziert schien, der akkordische Beginn des Orchester-Vorspiels. Die Klangleichkeit bleibt stets transparent und duftig, wofür auch Harfe Mandoline und Celesta sorgen. Bei den Streichern verzichtet Webern auf Kontrabässe und wählt die Celli als klangliches Fudament.

Weit ausschwingend die Melismatik des Sopransolos im Mittelsatz. Für den dritten Satz setzt Webern wie sooft auf eine Verschränkung verschiedener klassischer Formen und beschreibt sein Verfahrung in einem Brief an Willi Reich selbst:
Es ist der Konstruktion nach eine vierstimmige Doppelfuge. Aber Thema und Gegenthema verhalten sich wie Vorder- und Nachsatz (Periode), womit also wieder die Elemente der anderen (horizontalen) Darstellungsart hereinspielen. Man könnte auch von einem Scherzo sprechen, auch von Variationen! Doch ist es eine strenge Fuge.



Kantate Nr. 2

Die zweite Kantate, etwas breiter angelegt als Nr. 1, ist Anton von Weberns letztes vollendetes Werk, komponiert zwischen 1941 und 1943. Uraufgeführt wurde die Komposition erst 1950, fünf Jahre nach des Komponisten Tod, in Brüssel. Ein Baß-Solo beherrscht die ersten beiden Sätze, im Kopfsatz lediglich durch akkordische Einwürfe des Orchesters gestützt, im zweiten Satz kanonisch geführt mit den Instrumentalstimmen. Den dritten Satz beherrschen Sopran-Solo und Frauenchor, während der Sopran im vierten Satz rezitativisch mit Solovioline und Harfe dialogisiert, vom übrigen Orchester nach alter Opernmanier akkordisch unterstützt. Geradezu metaphysische Überlegungen zu dieser Musik konkretisierte Webern 1941 in einem Brief an Willi Reich:
Es ist formal ein Einleitendes, ein Rezitativ! – Aber nun liegt diesem Gebilde eine Konstruktion zugründe, wie sie vielleicht kein ‚Niederländer’ sich jemals ausgedacht hat; es war die vielleicht schwerste Aufgabe, die ich (in solcher Hinsicht) je zu erfüllen hatte! Zugrunde liegt nämlich ein vierstimmiger Kanon kompliziertester Art. Wie er ausgeführt ist aber, glaube ich, war nur möglich auf Grund des Reihengesetzes, das hier in ganz besondere Erscheinung tritt, ja, dessen Sinn hier vielleicht erst so ganz wirksam ist. Im Piaton habe ich gelesen, dass ‚Nomos’ (Gesetz) auch die Bezeichnung ‚Weise’ (Melodie) war. – Diese Weise nun, die das Sopran-Solo in meinem Stück singt als Einleitung (Rezitativ), sie möge das Gesetz sein (Nomos), für alles was noch folgt! Im Sinne der Goethischen ‚Urpflanze’: ,Mit diesem Modell und dem Schlüssel dazu kann man alsdann noch Pflanzen ins Unendliche erfinden ... Dasselbe Gesetz wird sich auf alles übrige Lebendige anwenden lassen.’ – Ist das nicht im tiefsten der Sinn unseres Reihengesetzes?
Sopransolo und Solo-Violine »konzertieren« nach dieser rezitativischen »Einleitung« auch im fünften Satz und formen so bewegte Intermezzi zwischen den akkordischen A-Cappella-Chorsätzen.
Instrumental gestützt singt der Chor zuletzt im sechsten Satz einen komplexen Doppelkanon. Der Komponist reflektiert hier auf seine Weise seine intensiven Studien der Renaissance-Polyphonie.

↑DA CAPO