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21. November 2006

Schlafwandeln mit Anna

Staatsoper. Die Netrebko in untauglichem Ambiente für Bellinis »Sonnambula«.

Das lebt!
Anna Netrebko im roten Galakleid springt auf den Tisch und serviert zu Bellinis zündenden Rhythmen Koloraturen und Spitzentöne treffsicher und mit einer Verve, daß tosender Jubel nicht ausbleiben kann.
Die letzten Minuten der jüngsten Aufführung der »Nachtwandlerin" in der Wiener Staatsoper boten, was zuvor einen Abend lang vergeblich erwartet worden war: virtuosen, von der Lust zur optischen wie vokalen Schaustellerei gespeisten Effekt.

Berührendes war ein wenig früher, im Lamento der zu Unrecht des Betrugs verklagten Liebenden, auch zu vernehmen. Da ist die Gestalterin Netrebko so recht in ihrem Element.
Mag man nämlich bei manchem heikel verschlungenen Zierrat in Bellinis Melodien-Reigen anmerken, er wäre feingliedriger, präziser darstellbar, als der russische Publikumsliebling das tut; in den verhaltenen Phrasen, die uns das Mädchen Amina unschuldig verstrickt in die Eifersuchtsfantasien ihres Verlobten zeigen, wird natürliches, uneitles Espressivo zum Opernereignis. Da singt in größter Schlichtheit eine Künstlerin, die instinktiv begreift, wie sie ihr Publikum darauf einschwören kann, mit ihr zu fühlen, zu atmen - oder auch: den Atem anzuhalten.

Die unheimliche Kraft der leisen Töne

Solcher Überrumpelung im Pianissimo halber strömt die Menschheit in die Oper - und nimmt zirkusreife Vokalartistik, so vorhanden, gern als virtuose Zuwaag'. Gelingt sie nur ansatzweise, reicht das allemal, wenn sich's mit den Figuren mitzuleben lohnt. Mit der Netrebko schlafzuwandeln ist jedenfalls von unwiderstehlichem Reiz, weiß Gott nicht nur wegen der Räkelszene im luftigen Kleidchen, die sich auch in Marco Arturo Marellis sinnentstellender Inszenierung malerisch einbauen läßt.
Mag der Star der Stunde, streng genommen, auch nur Näherungswerte an Bellinis vielschichtige Linienführung bieten: Viel weiter in den Bezirk jenes erfüllten Ausdrucksgesangs, den Belcanto einst wohl meinte, ist man im Haus am Ring lange nicht vorgedrungen.

Wie's im Übrigen um das Genre bestellt ist, verrät nach manchen diesbezüglichen Unbilden (beileibe nicht nur) in der laufenden Saison auch die Umgebung, in die Anna Netrebko gestellt ist.
Da ist der wackere Antonio Siragusa, der seinen Tenor in jene aberwitzigen Höhen hinaufzuschrauben imstande ist, die der Komponist einst dem fabelhaften Rubini in die Gurgel diktiert hat. Freilich, damals sah sich ein Tenor niemals genötigt, sämtliche Spitzentöne aus der Brust zu stemmen und hie und da einmal eine Phrase lang - als wär's ein ironisches Echo - dem Sopran falsettierend nachzueifern.

Operndirektors einzige Chance

Wer eine schöne Stimme zu hören wünscht, technisch beherrscht zwischen den Registern vermittelnd, in deren Gesang zudem je nach Situation der rechte Ausdruck mitschwänge, der verzweifelt heutzutage.
Nicht nur, aber auch bei Siragusa.
Und muß doch anerkennen, daß der Sänger alle, aber auch wirklich alle Töne trifft, auch solche, die selbst Bellini in einer späteren Version seiner Partitur sängerfreundlich herunterzutransponieren empfohlen hat. Womit Siragusa für einen Operndirektor heutzutage wohl unverzichtbar sein dürfte, will er die originale »Nachwandlerin« aufs Programm setzen.

Warum der Direktor das tut, wird allerdings nicht klar.

Zwar steht der sorglichen Mama der Janina Baechle mit Simina Ivan ein todesmutiges Ensemblemitglied zur Seite, das mit erstaunlichem Erfolg allen Mut und alles Können zusammenrafft, um minutenweise zum glaubwürdigen, eifersüchtigen Gegenbild der unschuldig-faszinierenden Primadonna zu werden.

Doch haben wir mit Michele Pertusi einen Grafen Rudolf, dessen sauberen Gesang kraftlose Tiefe und bläßliches Timbre doch erheblich stören.
Und einen Staatsopernchor, der alles - ob Festesjubel oder Geisterbeschwörung - in ein und demselben Ton und noch dazu meist nur in der Nähe der rhythmischen Vorgaben des Orchesters von sich gibt; eines Orchesters, das zwar - Radioübertragung, live! - ansatzweise seine Klangkultur zu demonstrieren versucht, aber an jeder weiterführenden gestalterischen Aufgabe scheitert.

Erstaunlich, wie dünn 18 philharmonische Geigen klingen können, wenn es darum ginge, eine weite, in natürlichen Steigerungswellen geatmete Phrase zu gestalten. Pier Girogio Morandi, als Organisator am Pult, verdient schon für seinen puren Wagemut einen Orden, wie jeder, der versucht, mit dem in dieser Hinsicht völlig ungeschulten Wiener Ensemble eine Belcanto-Oper zu gestalten.

Der Schlußjubel tönte freilich, als ginge es ohnehin ausschließlich darum, Anna Netrebko zu feiern. Das wäre nun allerdings trefflich geglückt. Es böte sich dazu auch in weniger peinlichem - und für die Sängerin vielleicht weniger heiklem - musikalischen Umfeld in Wien genügend Gelegenheit.

Warum »Sonnambula?«
Die Frage wird an diesem Abend nicht beantwortet.


↑DA CAPO

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