Adieu ohne Tränen

Christa Ludwigs letzter Salzburger Liederabend

11. August1993
Christa Ludwig sagte adieu. Ein Abend mit vielen Blumen, Ovationen - aber ohne Tränen. Die passen nicht zum Stil dieser Grande Dame. Christa Ludwig identifiziert sich, scheint's, mit jener absoluten Verinnerlichung, wie sie Gustav Mahler in vollständiger Hingabe an Friedrich Rückerts "Ich bin der Welt abhanden gekommen" erleben läßt: Den wahrhaftig tränenlosen, Resignation in Erfüllung verwandelnden Rückzug aus dem Leben, aus der Betriebsamkeit, gestaltet die Ludwig mit einem sanften, nach innen gekehrten Lächeln. Allein um die letzte Phrase dieses Liedes von ihr hören zu dürfen, müßte man Festspiele veranstalten.

Im Gesang der Christa Ludwig kam da - vielleicht wirklich "zum letzten Mal" - alles in eins. Die Transzendenz, die Mahler und Rückert meinen, die Aufgabe aller vordergründigen Nomenklatur von Leid, Freude, Schmerz oder Erfüllung zugunsten einer Einswerdung mit dem Sein, kann Musik vermitteln. Wenn eine singt wie diese Frau, eindimensionale Charakterisierungskünste hinter sich lassend, unmittelbare Gefühlsregung und Reflexion vereinend.

Dieselbe Stimme, die uns von den Qualen, der Perversion des "irdischen Lebens" singt und die koketten Liebeshändel des "Rheinlegendchens" geradezu neckisch ausplaudert, verströmt da mit einem Mal auch Botschaften vom ganz und gar Irrationalen, vom Ende aller Sehnsüchte. Und sie vermittelt tröstliche Gewißheit.

In jene höchsten Bereiche künstlerischer Erfüllung ist die Ludwig als Interpretin seit geraumer Zeit vorgedrungen. Genauer: Seit sie jegliche abdingbare Pose hinter sich gelassen hat, Stimme und Vortrag auf uneitle Weise zu harmonisieren und auf ein notwendiges Maß zu reduzieren versteht.

Da sind - für Richard Strauss etwa - durchaus eruptive, mit bewundernswert strahlenden Höhen durchsetzte Kantilenen, für Mahler auch theatralische Gestik. Nirgends aber verwertet diese Künstlerin die Herrlichkeit ihres vollkommen intakten, mit den Jahren jedenfalls keinen Deut unattraktiver, vielleicht sogar noch runder, ausgeglichener gewordenen Timbres als Selbstzweck, nirgends pfropft sie Ausdrucksgesten auf. Immer ist ihr Singen beseelt, redet intensiv zum Hörer, gerade auch dort, wo sie in vollkommener Schlichtheit artikuliert.

Mag sein, daß sie andererseits manchmal wahrhaft bühnenreif agiert, wenn es etwa gilt, einen Dialog lebendig werden zu lassen. Aber nirgends verfällt sie in zirkusreifes vokales Grimassieren. Höchste Plastizität, aber ohne Überzeichnung, Innigkeit, aber keine Spur von Larmoyanz. Also auch kein Druck auf die Tränendrüse beim deklarierten "Abschied vom Salzburger Festspielpublikum".

Gerard Mortier, im Verein mit seinen beiden Kodirektoren zuletzt als Gratulant auf dem Podium, traf den Kern der Sache, wenn er meinte: Wer so oft wie die Ludwig Mahlers "Lied von der Erde" gesungen habe, wisse um die Bedeutung eines "Abschieds" - aber auch um das letzte Wort in diesem Gedicht: "ewig". "Das Salzburger Publikum wird Ihnen ewig dankbar sein".

Die Sängerin reagierte auf den orkanartigen Beifall mit schlichten Zugaben, Strauss' "Zueignung" selbstverständlich, aber ganz zuletzt Brahms' zartes, poetisches "Wiegenlied". Sentimentalität ist nicht ihr Genre. "Ich war ganz gut bei Stimme", kommentierte sie verschmitzt beim anschließenden Empfang im Schloß Leopoldskron, wo ihr "Farewell to Salzburg" gleich auf Compact Disc präsentiert wurde.

Das paßt zu ihr. Natürlich hat sie ganz genau gewußt, wie gut sie "bei Stimme" war an diesem Abend, der das Wort bestätigte, dem zufolge man aufhören soll, wenn's gerade am schönsten ist. Keiner, der da gemeint hätte, es wäre für die Ludwig längst an der Zeit. Sie könnte uns noch viele unschätzbare Erlebnisse bescheren und ist uns jetzt - also doch im richtigen Moment -"abhanden gekommen".

↑DA CAPO