Die Wahrheit über das Klavierspiel

Oleg Maisenberg im Konzerthaus

4. Juni 1996
Ein pianistisches Ereignis der Sonderklasse - und ein musikalisches Rätsel.

Seit Oleg Maisenberg Wien erobert hat - der musikalische Feldzug begann Ende der siebziger Jahre und war sofort erfolgreich - ist für mein Gefühl kein Pianist mehr in der Stadt erschienen, der so differenziert, so feinfühlig Musik gemacht hätte.

Das hat wohl damit zu tun, daß dieser Künstler ein Verständnis des Wortes »Virtuosität« mitbringt, das im übrigen heute ausgestorben scheint. Selbst wo in Schumanns Carnaval halsbrecherische Zweiunddreißigstelraserei zur Schaustellung pianistischer Fingerfertigkeit dienen soll, steht sie bei Maisenberg noch im Dienste hintergründigen Ausdrucks. Paganini steht über einer der schier unbezwingbaren Passagen. Was Schumann meint: die dämonische Kraft, die hinter des Geigers artistischen Tonkaskaden steckte.

Romantische Abgründe


Das Abgründige kehrt wieder, wenn Maisenberg Paganini spielt; wie das Schwärmerische, das Schumann in Chopin beschwört: wenn die verzehrende Melodie in gehauchtem Pianissimo wiederkehrt, demonstriert nicht nur ein genialischer Interpret seine unvergleichliche Fähigkeit, ätherisch-leise Töne aus dem Flügel zu zaubern. Da ersteht eine romantische Zauberwelt, und das Publikum - im übrigen von widerwärtiger Unruhe - hält plötzlich den Atem an!

Haydns Sonate in Es-Dur (Nr. 52) mag dank der Rasanz der Ecksätze in höheren Rängen strukturell kaum mehr nachvollziehbar gewesen sein. Als Protokoll der Empfindsamkeit, für die Haydns Musik jenseits aller klassischen Formgebung ein Musterbeispiel ist, war auch diese Interpretation - im expressiven Wildwuchs des Adagio-Satzes zumal - ein Ereignis.

Brahms' "Händel-Variationen" bewiesen erneut, daß die Kunst des Klavierspiels nicht an falschen oder richtigen Tönen zu messen ist, sondern daran, was mit diesen Tönen mitgeteilt wird: Die Fuge, mit ihren waghalsigen kontrapunktischen Verschachtelungen, muß ein Pianist erst einmal so klar und dennoch voll Feueratem zum Klingen bringen. Dergleichen verzehrende Kunst ist nicht auf CD zu verewigen: Was würden die Rezensenten des Fono Forum zu dem verrutschten Ton in Takt 342 sagen?


↑ DA CAPO