Brendels Beethoven

Ein Abend im dritten Wiener Beethoven-Zyklus Alfred Brendels

→ 23. September 1993

Beethoven ganz geheim



Alfred Brendels dritte Beethoven-Rundreise geht in die zweite Etappe. Im Musikverein setzte der Pianist die Darstellung des Sonatenwerks am Dienstag abend fort, ganz ruhig, introvertiert - in stiller Größe also.

Ein aufdringlicher Musiktraumdeuter ist Brendel wirklich nicht. Zwar hat sich sein Beethovenbild mit den Jahren ganz und gar in romantische Regionen vorgetastet und dokumentiert den Aufbruch eines visionären Genies aus den (scheinbar) geregelten Bahnen der Wiener Klassik hin in subjektivere Gefilde. Aber Brendel läßt seine Hörer das keineswegs mittels vordergründiger Expressionistengestik spüren, vermittelt Romantik sozusagen subkutan.

Nichts an seinem Spiel ist als Direktangriff auf die Nervenzentren des Hörers zu verstehen. Man kann sich von Brendels Beethoven durchaus auch berieseln lassen, wird ihn, ganz wie's Brauch unserer Zeit ist, als angenehme Musikuntermalung empfinden, ohne sich viel dazu denken zu müssen.

Brendel spielt, so scheint es, ruhig vor sich hin, seine makellose Technik, seine Anschlagskultur fördern diesen Eindruck. »Nichts zu suchen« ist sein Sinn freilich nicht. Ein Pianist, der sein »Nachdenken über Musik« in kluge Worte zu fassen wußte, hat mehr über Beethoven zu erzählen, als man denkt.

Man muß sich ihm freilich widmen, muß unter die wohltönende Oberfläche des romantizistisch weich modellierten Klangbildes vordringen. Dann kann man lernen, wie ein großer Pianist auch heikelste Übergänge aufs scheinbar selbstverständlichste austariert, wie er dynamische Formverläufe zu einer natürlichen Entfaltung bringt, wie melodische Bögen atmen können.

Was sich da scheinbar »von selbst« entwickelt, ist, begreift man, durch akribische Demontage, durch analytische Sektion zuerst feinsäuberlich auf seine inneren Baupläne untersucht und später von einem Künstler seines Faches wieder perfekt zusammengesetzt worden; eine Einheit höherer Ordnung also.

Wer will, kann das mitverfolgen und wird, wie das halt bei diesem Pianisten so ist, in einem Brendelschen Klavierabend ein wenig klüger werden. Wer solches als Strapaze empfände, kann einen solchen Abend mit den drei Sonaten op. 2 und dem Opus 57 freilich auch als luxuriöses Klangbad betrachten. Denn selbst in der Appassionata verzichtet Brendel darauf, romantische Seelenbespiegelung drastisch herauszustellen. Sein Spiel bleibt bei aller Differenzierung immer rund, weich und ohne Kanten.

Was Wunder, daß alle, die gekommen waren, begeistert reagierten?

↑DA CAPO