Alfred Brendel

Würdigung zum 70. Geburtstag

Welt-Virtuose aus Altösterreich,
„Lordsiegelbewahrer” der Klassik

»Die Presse«, 2001
Irgendwie zählen wir ihn gern zu den „Wiener Pianisten", was natürlich eine drastische Verbiegung der Geschichte darstellt. Aber bei Alfred Brendel, dem Meister der verschlungenen musikalischen Pfade, wird vielleicht sogar das erlaubt sein. Vermutlich verbucht ihn dieser Tage, da es gilt, seinen Siebziger zu feiern, sogar London auf sein Kulturkonto. Schließlich lebt der Künstler seit drei Jahrzehnten in England.
Also lieber der Reihe nach. Die Biographie des Pianisten Alfred Brendel liest sich wie eine verspätete Anleihe an typisch altösterreichischen Lebensläufen. Geboren wurde er in Wiesenberg/Nordmähren als Sproß einer deutsch- österreichischen Familie, die wiederum auf der Adriainsel Krk eine Ferienpension betrieb. Die Schule besuchte er in Agram, wo er auch seinen ersten Klavierunterricht erhielt.

Jetzt wird es künstlerisch-kosmopolitisch. Denn die Lehrerin Sofija Dezelic war Hüterin einer großen Tradition, die von Franz Liszt ausging, dessen Schule sie entstammte. Es liegt wohl daran, daß Brendel bis heute für Musiker wie Liszt oder auch Ferruccio Busoni, die im internationalen Musikgeschäft ein wenig scheel angesehen werden, ein Faible hat und konsequent für die Verbreitung von deren Werken eintritt.
Aber weiter im Zeitraffer.
1943 übersiedelte die Familie Brendel nach Graz. Das dortige Konservatorium legte für den jungen Mann die Grundlage zur solidesten musikalischen Ausbildung, studierte er neben seinem Instrument doch auch Komposition und absolvierte die Staatsprüfung als Externist in Wien. Soviel zum „Wiener Pianisten” Brendel, der von Anbeginn nicht nur als virtuoser Klavierkünstler, sondern als vielseitig beschlagener Intellektueller und kreativer Kopf gelten durfte. Schon in Graz zeigte er 1948 Aquarelle. Bis heute präsentiert er sich gern als sprachgewandter Schriftsteller mit Hang zum skurril-kauzigen Humor.

Von Wien, wo er ab 1950 daheim war, trat er immerhin seine pianistische Weltkarriere an. Mozart und Beethoven standen im Zentrum des Repertoires, das man von dem jungen Künstler, der später auch als „Lordsiegelbewahrer der Klassik” apostrophiert wurde, zu hören wünschte. Bald schleuste Brendel in seine Programme jedoch schon jene Komponisten ein, die er neben den beiden meistgespielten Größen aus ihrer Isolation zu befreien wünschte: Sowohl Haydn als auch Schubert, das hatte Brendel schnell erkannt, waren (und sind) zwar ebenso häufig genannte Namen der Musikhistorie, aber ihre Werke sind mit wenigen Ausnahmen den meisten Konsumenten so gut wie unbekannt.
So baute Brendel regelmäßig Sonaten dieser beiden Meister in seine Konzerte ein, überzeugte Publikum wie Kritik immer aufs neue davon, wieviel hintergründiger Humor bei Haydn, wieviel innere Größe bei Schubert zu finden sind.

„Schubert, das ist doch Musik für kleine Mädchen am Konservatorium", auf diesen Nenner hatte ein Komponist wie Alexander Skrjabin die allgemeine Meinung einmal auf den Punkt gebracht. Alfred Brendel mochte daran nicht glauben. Wenn es einen Pianisten gegeben hat, der für die wahre Entdeckung der Schubertschen Klaviermusik entscheidende Schritte gesetzt hat, dann war es Brendel. Seine Schubertzyklen haben sogar in der Heimatstadt des Komponisten Ohren geöffnet, falsche Bilder korrigiert, Vorurteile abgebaut und manchen Kommentator beschämt. Das ist der Pädagoge Brendel, der freilich über aller lehrreichen Kunst nie die Lust am Klang, die Lust am direkt zupackenden musikalischen Ausdruck vergessen hat. So wurde er populär, und das Publikum akzeptierte es und kaufte Karten, wenn er einmal ein Liszt-Raritätenprogramm ansetzte. Stets darf man bei ihm sicher sein, nicht nur intellektuell, sondern auch emotionell auf seine Rechnung zu kommen.

Freilich: Wenn er mit Simon Rattle und den Wiener Philharmonikern ins Studio geht, um die Beethoven- Klavierkonzerte aufzunehmen, dann macht diese Beschäftigung mit den Höhepunkten der Wiener Klassik nach wie vor aufs selbstverständlichste weltweit Schlagzeilen und bringt sogar Schallplattengesellschaften dazu, Exklusivkontrakte zu vergessen, um einem großen Mann einen Herzenswunsch zu erfüllen. Immerhin: Eine Platte von Brendel garantiert bis heute einen Sprung in die Charts.

Darf man es uns also verübeln, wenn wir Alfred Brendel als „Wiener Pianisten” zum Geburtstag gratulieren möchten? Angesichts unserer Dankbarkeit für alles, was er für die Wiener Musik international getan hat, wird man uns die kleine Verengung der Faktenlage vielleicht verzeihen.

↑DA CAPO