Die zarten Stimmen

Dmitri Bashkirov in Wien


9. März 1994
Dmitri Bashkirov hat nach langen Jahren erst vorige Saison wieder nach Wien gefunden. Jetzt sollte der Pianist regelmäßig wiederkommen. Er fasziniert seine Hörer.

Er stößt sie vielleicht manchmal auch vor den Kopf. Das haben interessante Interpreten-Persönlichkeiten so an sich. Der Flügel ist nur halb geöffnet, wenn Bashkirov spielt. Die leisen Töne, die zarten Stimmen herrschen vor, auch dort, wo andere kräftig losdonnern würden.

Das Sforzato, die Übertreibung, der Seelenlärm, Eigenschaften, die anderen beinahe genügen, um ganze Klavierabende zu bestreiten sind seine Sache nicht. Er nimmt es sich heraus, nicht nur in halsoder besser fingerbrecherisch schweren Passagen daneben zu greifen.

Anders herum: Wer, wenn er sich so in die intimen Botschaften von Schumanns »Fis-Moll-Sonate« versenkt, diesen offenen, aber hieroglyphisch verschlüsselten Liebesbrief an Clara, träfe jeden Ton; wem wäre das, überdies, wichtig?

Bashkirov träumt am Klavier, oder läßt jedenfalls den Hörer träumen, erinnert ihn angelegentlich daran, wie vielen bildhaften, literarischen, persönlichen Anliegen Schumann seine Musik notorisch verdankt.

Was frühere und spätere Generationen bis zur Unkenntlichkeit mit einer »l'art pour l'art«-Ästhetik maskiert haben, tritt hier ungeschminkt und offen zu Tage.

Bashkirov holt auch aus den »Intermezzi (op. 4)«, wie die Sonate dank ihrer äußeren und inneren Schwierigkeiten selten aufgeführt, ein Höchstmaß an beredter Gestik, verzerrt oft bis zur Grimasse, dann wieder hingebungsvoll bis zum Exhibitionismus.

Jähe Stimmungsschwankungen auch bei Prokofieff im zweiten Teil des spannend programmierten Recitals: Fünf Nummern aus den »Visions fugitives« op. 22. Die »sarkastische« Periode des russischen Meisters, wo die Töne kichern, satanisch lachen und die melodischen und rhythmischen Linien blitzschnelle Haken schlagen.

Viel Poesie

Dann herrscht gleich wieder Poesie: Aus der Klavierfassung des »Romeo und Julia«-Balletts gibt Dmitri Bashkirov den »Abschied« zum besten, das behutsame Idealbild einer innigen Liebesszene und das trostlose Alleingelassensein eines todesgewissen Mädchens: Der Pianist zaubert nicht Töne, sondern Stimmungen aus dem Flügel.

Debussy-Preludes, folgerichtig, zuletzt. Hier löst sich die Musik vollends von jeglichem traditionellen Muster, dichten sich Töne ihre Form. Bashkirov, ganz in seinem Element, erntet für sein hingebungsvolles Spiel, das ganz leise, ja eigentlich: wirklich still werden kann, sehr lauten Jubel.


↑DA CAPO