Roger Norrington

21.8.1993
Wahrhaftigkeit wider Hörgewohnheit

Roger Norrington kommt nach Wien. Vor ein paar Jahren wäre das noch erklärungsbedürftig gewesen: Wer ist Norrington?, hätte man gefragt. Heute kommt der britische Dirigent als Star, wenn auch vielleicht als "Star der dritten Art".

Norrington, Jahrgang 1934, hat sich in den achtziger Jahren vom lediglich in seiner Heimat bekannten Apostel historisierender Aufführungspraktiken zum international berühmten Interpreten gemausert, dessen Schallplattenaufnahmen von Symphonien Beethovens, Schumanns oder Mendelssohns heftig diskutiert wurden.

Ein Jahrzehnt zuvor hätte man ihn wohl in Mitteleuropa noch keiner Feuilletonzeile gewürdigt, wenn er damals bereits ausgezogen wäre, um romantischen Orchesterwerken mit jenen Mitteln beizukommen, die man für das Barocke dank Nikolaus Harnoncourt und etlichen Mitstreitern gerade schon, wenn vielleicht auch widerwillig akzeptieren gelernt hatte.

Unerbittliche Strenge

Aber die "Symphonie fantastique", das revolutionäre, hochromantische Klanggemälde auf Darmsaiten, geblasen von Trompeten und Hörnern ohne Ventile? Hieß das nicht Pervertierung von Gedanken und Praktiken, die im Falle von Bach oder Händel gerade noch wohlbegründet sein mochten?

Mit Roger Norrington kommt einer der radikalsten Vertreter jener Interpreten-Generation nach Wien, die sich auf dem modischen Sektor der "Interpretation auf Originalinstrumenten" hervorgetan haben. Bis hin zu Wagners Ouvertüre zum "Fliegenden Holländer" hat sich Norringtons Repertoire bereits ausgeweitet, bis nach Cleveland, Los Angeles oder Boston, also in die Hochburgen romantisch-moderner Orchestertradition, reicht sein Dirigentenarm.

Und vom verbissenen Ehrgeiz, den man ihm angesichts der eingangs geschilderten Fakten, angesichts der unerbittlichen Strenge, mit der er, darmsaitenbewehrt, gegen die Errungenschaften der neuzeitlichen Symphonieorchester zu Felde zieht, andichten könnte, merkt man wenig, sobald man sich mit ihm unterhält: "Wissen Sie", erklärte er mir jüngst nach einem Konzert in Deutschland, auf seine Fixierung auf historische Wahrhaftigkeit angesprochen: "Wir sind nicht fixiert auf wissenschaftliche Erkenntnisse, wir lieben die Musik. In diesem Sinn sind wir eigentlich Amateure - das Wort hat ja einen ganz falschen Beigeschmack bekommen."

Norrington geht offenbar auch ethymologisch "ad fontes". "Als Leiter der Kent Opera habe ich mir", erzählt er weiter, "ein sehr breites Opernrepertoire angeeignet, das beileibe nicht nur barocke und klassische Musik umfaßt, sondern bis in die Moderne reicht". Von Anfang an, eineinhalb Jahrzehnte lang, stand der Musiker an der Spitze der 1969 gegründeten, dank ihrer aufsehenerregenden Aktivitäten bald über die Grenzen Englands berühmten Truppe.

Ähnlich wie seinerzeit Harnoncourt in Zürich, hatte auch Norrington in Kent mit Monteverdis "Krönung der Poppäa" sein erstes Schlüsselerlebnis musiktheatralischer Art. Seither weiß er, daß er seinen Überzeugungen, die da dank strenger Befolgung aller historischen Erkenntnisse so herrliche Blüten getrieben hatten, treu bleiben muß, auch dort, wo ihm das Publikum, traditionsverliebt, wie es einmal ist, zunächst die Gefolgschaft versagt.

Die Zeit ist Norrington wohlgesinnt: Nicht zuletzt die Musik-Feuilletonisten Deutschlands versuchen die Meinungen und Erwartungshaltungen der mitteleuropäischen Musikfreunde konsequent in die Richtung zu trimmen, die Norrington radikaler als Kollegen wie Harnoncourt, Gardiner oder Hogwood vorgibt.

Am Sonntag gastiert der Dirigent mit einer Aufführung von Joseph Haydns Oratorium "Die Jahreszeiten" beim Wiener Musiksommer. Das Feld ist vorbereitet: Nikolaus Harnoncourt hat diesen Klassiker bereits vor etlichen Jahren in Wien gegen den Strich aller Aufführungs-Konventionen gebürstet, mit schmetternden Horn- und vibratolosen Streichertönen ausführen lassen und großen Applaus dafür geerntet.

Ob es Roger Norrington gelingt, noch radikaler alle romantischen Hör-und Spielgewohnheiten auszumerzen und dem Wiener Publikum sein Haydn-Bild schmackhaft zu machen?

↑DA CAPO