Riccardo Muti

Gespräch, 31. Dezember 1996

»In einem Neujahrskonzert sollte
auch der Tod mitschwingen«

Maestro, Sie gelten als Favorit der Wiener Philharmoniker. 1997 leiten sie zum zweitenmal das Neujahrskonzert. Nimmt dieses Ereignis, einmal abgesehen von der Tatsache, daß dabei so viele Menschen zusehen wie bei keinem anderen Konzert, eine Sonderstellung für Sie ein?

Riccardo Muti: Durchaus. Wir versuchen, mit diesem Konzert eine besondere Idee zu vermitteln. Wir wollen versuchen, eine etwas weitere, tiefere Vorstellung von dem zu vermitteln, was Johann Strauß eigentlich war, und damit die Wiener Kultur seiner Zeit neu beleuchten. Es ist doch normalerweise irgendwie immer dasselbe: Jeder weiß, hier kommt der Donauwalzer, hier der Radetzkymarsch. Das vermittelt ein oberflächliches Bild.

Wie können Sie das revidieren?

Zum Beispiel durch die Programmauswahl. Sie haben da in Wien den wunderbaren Professor Franz Mailer, mit dessen Hilfe wir eine völlig neue Programmfolge zusammengestellt haben. Es stehen heuer mehr unbekannte Walzer und Polkas auf dem Programm als gewohnt. Wir bringen ein breiteres Spektrum zum Klingen. Da ist natürlich die Lebensfreude, der Schwung, der Esprit. Aber da sind auch Wolken, da ist viel Melancholie.

Unterhaltungsmusik?

In dieser Musik schwingt auch der Tod mit. Das wollen wir auch hörbar machen. Das Neujahrskonzert soll nicht nur eine fröhliche Angelegenheit sein. Das auch. Aber die Welt soll dabei auch einen großen Komponisten besser kennenlernen. Strauß ist es nicht nur um eine effiziente Produktion von brillanter Unterhaltungsmusik gegangen.

Sie haben schon bei ihrem ersten Neujahrskonzert weniger bekannte Walzer aufgeführt. Waren Sie damals vor ihrem Debüt eigentlich nervös. Es gibt ja einen hohen Erwartungsdruck bei einem so populären Ereignis.


Zuerst einmal war es ja so, daß viele wahrscheinlich gemeint haben: Was soll denn ein Neapolitaner als Dirigent bei diesem Konzert? Bei den Norditalienern meint man immer, hier sei ein natürlicher Konnex gegeben. Neapel aber, das sei etwas ganz fremdes. Das stimmt aber überhaupt nicht. In Wahrheit ist es eher umgekehrt.

Wien und Neapel

Immerhin war in einer entscheidenden Phase unserer Geschichte Maria Carolina unsere Königin. Und das war eine Tochter Maria Theresias. Es war eine wichtige Zeit für die neapolitanische Musik. Neapel war im Gegensatz zu andern italienischen Städten, die heute als Metropolen gelten, eine Hauptstadt und stand in reger auch kulturpolitischer Verbindung mit Wien. Das übersieht man heute immer und denkt, Mailand ist näher. Das stimmt nur geographisch. Ich fühle mich als geborener Neapolitaner Wien viel näher. Maria Carolina hat auf mich noch einen starken Einfluß.

Diese Nähe teilt sich, scheint's, auch den Philharmonikern spontan mit, die besonders gern mit Ihnen musizieren und ihnen wohl deshalb auch das Neujahrskonzert angeboten haben?


Das könnte sein. Es war ja ursprünglich so, daß ich mich geweigert hatte, dieses Konzert zu dirigieren. Man hat es mir angeboten und ich habe zunächst einmal kategorisch nein gesagt, obwohl ich weiß, daß viele meiner Kollegen, ohne lang zu überlegen, sofort zugreifen würden. Mein monatelanges Nein hatte auch etwas mit meinem Image zu tun.

Hochnäsigkeit?

Ich gelte immer ein bißchen als hochnäsig. Und da dachte ich, die Leute werden sagen: Jetzt dirigiert er auch noch das Neujahrskonzert. Wien braucht doch einen wienerischen Dirigenten. Die Philharmoniker haben aber insistiert. Es war die Zeit, als wir die Gesamtaufnahme der Schubert-Symphonien abgeschlossen hatten, eine Arbeit, über die ich noch immer sehr glücklich bin. Die Musiker haben mir gesagt: Wenn einer Schubert so dirigiert, dann ist er doch schon auf dem besten Weg zu Strauß.

Wie sich dann herausgestellt hat, waren Sie das offenbar wirklich. Jedenfalls hat das Konzert von 1993 ein enorm positives Echo gehabt. Die Einladung für weitere Neujahrskonzerte scheint Ihnen sicher. Wie steht es mit der Wiener Oper?


Unlängst war ein Journalist bei mir und hat mich gefragt: Welches ist Ihrer Ansicht nach das beste Opernhaus der Welt. Daraufhin habe ich ihm geantwortet: Was glauben Sie, was ich Ihnen auf diese Frage sagen werde, wenn Sie mich das hier in meinem Büro in der Mailänder Scala fragen? Fragen Sie mich, was die beiden bedeutendsten Häuser sind, dann sage ich: Wien und Mailand.
Und das ist die Wahrheit, nicht meine eingeengte Sicht.
Für mich ist Japan ein Gradmesser für den "Marktwert" unserer Kultur. Wenn Sie dort nachfragen, hören Sie: Italienische Oper ist gleich Scala. deutschsprachige Oper ist Wien. Erst lang danach kommen die anderen Opernhäuser. Das ist auch wichtig für das kulturelle Image der beiden Länder, Italien und Österreich.

Angesichts dieser klar gezogenen Fronten ist Ihr Mailänder Spielplan erstaunlich zusammengesetzt. Sie feiern gerade Ihr Zehn-Jahr-Jubiläum als künstlerische Chef der Scala und haben am traditionellen Eröffnungstag der Saison, dem 7. Dezember, bisher zwar dreimal Verdi und einmal Rossini, aber noch keinen Puccini dirigiert. Dafür dreimal Mozart und zweimal Wagner, heuer Gluck. War das nicht eine kleine Revolution?


Wenn Sie so wollen, war es eine Revolution. Aber eine, die dem Haus, wie ich glaube, künstlerisch sehr, sehr viel eingebracht hat. Wir haben das Publikum geändert. Und zwar Stück für Stück. Vor allem mit Mozart und Gluck.

Wie verwandelt man mit Mozart und Gluck das Publikum?

Haben Sie heuer während der Premiere von Glucks "Armida" einen Muckser im Auditorium gehört? Auch bei der kompliziertesten Stelle bleiben die Leute ruhig und konzentriert! Das war früher nicht so. Mozart und Gluck haben als eine Art Schule des Hörens Disziplin gebracht.

Mailand, verändert

Übrigens keineswegs nur bei den Besuchern. Auch künstlerisch hat sich etwas geändert. Das Orchester spielt viel präziser, verantwortungsbewußter als früher. Sogar die Bühnenarbeiter sind sich ihrer Verantwortung bewußt. Ich habe ihnen gesagt: Für eine Oper von Gluck müssen sie jeden einzelnen Nagel anders einschlagen als für den zweiten Akt der "Aida".

Und das haben die Leute akzeptiert und verstanden?


Absolut.

Wie ist so etwas möglich?

Nehmen Sie Mozart. Diese Musik sagt Ihnen doch alles. Bei Mozart gibt es etwas Unberührbares; "untouchable". Da geht keine Show. Da ist nichts, auch nicht der kleinste Rest von Gewöhnlichkeit.
Und plötzlich ist auch kein Lärm mehr im Publikum, obwohl sich die Leute hier gern undiszipliniert unterhalten haben während der Vorstellung.
Das geht dann auch noch weiter: Wer Mozart versteht, versteht auch andere Musik besser. In diesem Sinne haben wir, glaube ich, hier mit unseren Mozart- und Gluck-Aufführungen viel erreicht für das allgemeine Musikverständnis.

Seelennahrung

Die Leute begreifen, daß Musik nicht, wie in Amerika, eine Sache der puren Unterhaltung ist. Das ist meiner Ansicht nach überhaupt eine unserer Hauptaufgaben: Musik, das muß wieder Nahrung für die Seele sein, nicht sinnentleerte Berieselung, nicht angenehmes Hintergrundgeräusch.

Jugendarbeit


Diese Notwendigkeit spürt man in vielen Musikzentren. Sind Sie zuversichtlich, daß die Trendumkehr der allgemeinen Bewertung dessen, was Musik für das Leben bedeutet, tatsächlich eingeleitet wird - auch jenseits des Logenrundes der Mailänder Scala?


Natürlich. Wir haben hier in Mailand gleich am Beginn meiner Tätigkeit etwas eingeführt, was ungeheuer erfolgreich war: Wir haben Schülern Einlaß in unsere Proben gewährt. Das läuft nun konsequent seit zehn Jahren und hat schon Folgen für das Musikleben der Stadt, denn das ist das Publikum von morgen.

Haben die Kinder Gelegenheit, mit Ihnen selber zu sprechen?


Ja. Das ist sehr wichtig. Jeweils nach der Probe gehe ich zu ihnen und erkläre ihnen, was sie wissen wollen. Das wird natürlich in den Schulen vorbereitet. Die lernen zum Beispiel heuer, im Falle von Glucks "Armida" zuerst etwas über die literarischen Quellen dieser Oper, lesen Tasso und Ariost. Dann kommen sie schon wohl vorbereitet hierher in die Scala und erleben die Musik von Gluck natürlich anders als einer, der vollkommen ahnungslos ist. In den zehn Jahren, seit ich hier bin, haben wir schon Tausende hier gehabt. Ich glaube, daß das überhaupt das Wichtigste war, was ich an diesem Theater gemacht habe.

In Österreich schien sich während der achtziger Jahre eine ähnlich intensive künstlerische Bindung anzubahnen: Konzerte mit den Philharmonikern, Oper bei den Salzburger Festspielen?


Die Probleme mit Salzburg kennen Sie ja zur Genüge. Was ich zu Gerard Mortier zu sagen habe, habe ich auch längst gesagt. Sein letztes Angebot im Vorjahr war eine neue Produktion von Mozarts "Figaro", aber unter der Bedingung, daß ich die längst geplante Produktion derselben Oper im Theater an der Wien nicht dirigieren dürfe. Daraufhin war für mich die Sache erledigt.

Projekte für Wien

Wir haben in Wien ein Langzeitprojekt entwickelt und wollen sämtliche Da-Ponte-Opern Mozarts im Theater an der Wien zeigen. Das hat einen Sinn. Außerdem war das ja nur einer der Gründe meiner Konfrontation mit Mortier. Mit Staatsoperndirektor Holender bin ich in besten Gesprächen.
Sicher ist, daß wir nach "Cosi fan tutte" den "Don Giovanni" und dann eben "Figaros Hochzeit" im Theater an der Wien machen. So ist meine Zusammenarbeit mit dem Wiener Orchester auch in der Oper auf einer sicheren Basis. Das ist mir wichtig.

Probleme in Salzburg


Was hätten Sie davon gehalten, wenn sich die Philharmoniker, die ja auch ihre Probleme mit Mortier haben, aus Salzburg zurückgezogen hätten, um ein eigenes Festival in Wien mitzugestalten? Das ist während der letzten Wochen wiederholt in Wien ventiliert worden.

Ein eigenes Festival, gut. Aber man muß wissen wie und wo! Das könnte etwas sehr Schönes sein, aber es darf keinesfalls aussehen wie eine Fortsetzung der Spielzeit der Staatsoper. Über solche Dinge darf man nicht vorschnell urteilen. So etwas muß vorsichtig geplant und durchdacht werden.
Außerdem: Salzburg ohne Wiener Philharmoniker, das geht nicht. Das hat ja keinen Sinn. Das wäre, als wenn Sie forderten, die Mailänder Scala soll spielen, aber ohne das Scala-Orchester.

Diese ganze Diskussion ist eigentlich lächerlich. Man müßte doch in Salzburg wissen, was man an diesem Orchester hat. Es ist ja zum Beispiel auch seltsam, daß man im Schubert-Jahr einen Zyklus mit den Schubert-Symphonien ansetzt und diesen dann nicht von den Wiener Philharmonikern musizieren läßt.
Ich bin kein Nationalist, bestimmt nicht. Ich dirigiere ja auch nicht nur Verdi und finde ja zum Beispiel, daß der deutsche Pianist Walter Gieseking der beste Interpret des Franzosen Claude Debussy war. Aber wissen Sie: Ein Schubertzyklus im Schubertjahr bei den Salzburger Festspielen ohne Wiener Philharmoniker, das sieht nach außen hin doch wie eine Provokation aus!

↑DA CAPO