Otto Klemperer

Aus diesem Künstler wird man nicht schlau. Man muß ihn akzeptieren, wie er war. Tatsache ist: Es gibt von ihm kein schwaches Tondokument. Dafür manch irritierende Aufnahmen, die aber selbst dort, wo man zunächst - etwa in den spätesten Bach-Einspielungen - ein Tempo für grotesk verschleppt hält, am Ende konsistent und in sich schlüssig wirken; wenn man nicht zuvor die Geduld verloren und abgeschaltet hat.

Otto Klemperer war manisch depressiv, hat Phasen durchgemacht, in denen er nicht auftreten konnte, gefolgt von Zeiten, in denen unter Hochdruck eine Schallplattenaufnahme nach der andern entstand. Er war ein Hüne von einem Mann, durch schwere Krankheit und lebensbedrohende Unfälle nicht aus der Bahn zu werfen, herrisch und unbeugsam gegen die Orchestermusiker, unbeugsam auch in seinen interpretatorischen Ansätzen, die er stets ohne Kompromisse verfolgte.

In seiner Unbedingtheit konnte er - mit einigem zeitlichen Abstand - hie und da schon einmal auch ein und dasselbe Werk auf höchst unterschiedliche Weise darstellen: Es gibt von ihm eine der raschesten Einspielungen von Bruckners Vierter (mit den Wiener Symphonikern auf VOX) und eine sehr langsame (mit dem Philharmonia Orchestra auf HMV/EMI). Es gibt von ihm eine Aufnahme von Mendelssohns Schottischer Symphonie in ihrer Originalgestalt und eine, in der Klemperer den Schluß des vierten Satzes durch eine Eigenkomposition ersetzt (mit de Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks)!

Eine legendäre Partnerschaft verband Klemperer unter der Aufsicht des Produzenten Walter Legge mit dem Philharmonia Orchestra in London. Einige Aufnahmen in dieser Konstellation dürfen in keiner gut sortierten Sammlung fehlen. Während etwa die Mozartschen Opernproduktionen - bei glänzenden Sängerbesetzungen - durch Klemperers Tempodramaturgie von vielen Musikfreunden als ermüdend empfunden werden, zählen die späten Mozart-Symphonien in Klemperers Deutung zu den bedeutendsten Darstellungen dieser Partituren: präzis, voll Kraft und Saft und rhythmisch ungemein pointiert, sind sie bis heute eine Herausforderung für die Versuche der Originalklang-Generation, mit ihren Mitteln eine ähnliche Verdichtung und Vergeistigung zu erreichen.




Unangefochten an der Spitze der »goldenen« Liste von Brahms-Aufnahmen stehen die Einspielungen der vier Symphonien - egalisiert lediglich von Bruno Walter und Wilhelm Furtwängler (jeder auf seine Weise vollendet.)



In ihrer dramaturgischen Stringenz zählen selbstverständlich auch Klemperers Beethoven-Aufnahmen zu den diskographischen Unausweichlichkeiten. Die Studio-Produktion der Missa solemnis für EMI (1966) gilt als Meilenstein in der Aufnahmegeschichte; vielleicht aber packt Klemperers ältere Wiener Einspielung mit den Symphonikern (1953 für Vox) trotz ihrer technischen Mängel noch mehr: Sechs Minuten schneller, dabei keineswegs übertrieben in den Tempo-Folgen, sorgt sie mit Ecken und Kanten für Reibeflächen, die dem Hörer bei einer intensiven Auseinandersetzung mit diesem Werk nicht erspart bleiben dürfen.

Fesselnd auch immer die Dokumente von Zusammenkünften Klemperers mit Orchestern, die nicht ständig mit ihm gearbeitet haben und daher nicht unbedingt an seine Arbeitsweise gewöhnt waren. Die daraus resultierenden »Reibungen« sorgten nicht selten dafür, daß künstlerisch leuchtkräftige Funken sprühten. So entstand im Rahmen eines Klemperer-Gastspiels am Pult der Wiener Philharmoniker im Musikverein 1968 unter anderem eine der fesselndsten → Aufnahmen von Gustav Mahlers Neunter Symphonie. (Testament)



↑DA CAPO