Boulez, verläßlich wahrhaftig
5. Mai 1994
Der letzte Takt
des Festwochen-Eröffnungskonzertes klang wie die Inspirationsquelle für den letzten großen Roman Thomas Bernhards: »Auslöschung«. Konsequenz eines Musik-Ereignisses.
Der letzte, ein Pizzicato-Ton könnte jeder Kritik entgegen gehalten werden, die meint, Pierre Boulez' Interpretationen seien perfekte organisatorischanalytische Leistungen, entbehrten aber jeglichen Gefühls.
Das Gegenteil ist wahr.
Tatsächlich entlarvt ein solcher Maestro nämlich sämtliche Kollegen - die gerade in Gustav Mahlers »Sechster Symphonie« vor allem Anlaß für jene Kitschproduktion sehen, für die Hermann Broch das unschlagbare Epitheton vom Seelenlärm erfunden hat.
Die Sechste führt ohne Kompromisse vom Lebenskampf in die vollständige Verzweiflung. Ein bißchen enttäuschte Liebessehnsucht steht gegen alle Widrigkeiten, die die Welt einem sensiblen Zeitgenossen zu bieten hat, und gegen fratzenhafte Zerrbilder, wie sie die Wirklichkeit von Traumgebilden anfertigt.
Darin läßt sich schwelgen, denn auch dem Schrecklichen kommt in der Kunst ästhetischer Wert zu. Plattenregale lassen sich mittlerweile mit entsprechend mißverständlichen Darbietungen dieser Symphonie finden.
Im übrigen knappe, klare, zum Teil sogar feldwebelhafte Bewegungen, die neben der strikten Kontrolle der Rhythmik nur eins im Sinn zu haben scheinen: die makellose Herstellung jener dynamischen Strukturen, die in der Partitur angegeben sind. Die Philharmoniker füllen die architektonischen Pfeiler, Stränge und Verstrebungen, die ihnen in diesem Koordinatensystem zugedacht sind, mit hemmungslos klarem, prachtvollem Klang - oder mit dem Gegenteil, wo das unmißverständlich vorgeschrieben ist.
Diese Kombination - und Boulez' bei aller Präzision auch vorhandenes Gespür für die Notwendigkeit freier melodischer Entfaltung - machte die Festwochen-Matinee zum Ereignis. Denn auf solche Weise erscheint keiner der Mahlerschen Assoziationseffekte, keine der Figuren dieser musikalischen Allegorie künstlich mit Ausdrucksgehabe erfüllt. Die Musik entfaltet ihre Klangrede, indem sie sich selbst so vollkommen wie möglich darstellt, umso unmittelbarer.
Das sitzt.
So ist diese Symphonie die »Tragische«. Und kein Entrinnen ist möglich. Der schon erwähnte Schlußton schickt den letzten Hoffnungsstrahl in den Orkus. Auch so trifft Musik den Hörer in die Magengrube. Nur so tut sie's ehrlich.
Es blüht ohne Kunstdünger.
Der letzte, ein Pizzicato-Ton könnte jeder Kritik entgegen gehalten werden, die meint, Pierre Boulez' Interpretationen seien perfekte organisatorischanalytische Leistungen, entbehrten aber jeglichen Gefühls.
Das Gegenteil ist wahr.
Tatsächlich entlarvt ein solcher Maestro nämlich sämtliche Kollegen - die gerade in Gustav Mahlers »Sechster Symphonie« vor allem Anlaß für jene Kitschproduktion sehen, für die Hermann Broch das unschlagbare Epitheton vom Seelenlärm erfunden hat.
Die Sechste führt ohne Kompromisse vom Lebenskampf in die vollständige Verzweiflung. Ein bißchen enttäuschte Liebessehnsucht steht gegen alle Widrigkeiten, die die Welt einem sensiblen Zeitgenossen zu bieten hat, und gegen fratzenhafte Zerrbilder, wie sie die Wirklichkeit von Traumgebilden anfertigt.
Darin läßt sich schwelgen, denn auch dem Schrecklichen kommt in der Kunst ästhetischer Wert zu. Plattenregale lassen sich mittlerweile mit entsprechend mißverständlichen Darbietungen dieser Symphonie finden.
Balance der Verzögerung
Keine, nicht die kleinste aufgesetzte Expressionsgeste trübt hingegen unter Pierre Boulez' Händen den von Mahler penibel aufnotierten symphonischen Katastrophenverlauf. Das Orchester realisiert, was in den Noten steht. Der Dirigent sorgt für schlafwandlerisch sicher ausbalancierte Verzögerungen, wo der Komponist sie vorschreibt, und gönnt sich nicht einmal im verzehrenden "»Alma«-Thema eine einzige Ausnahme von dieser Regel.Im übrigen knappe, klare, zum Teil sogar feldwebelhafte Bewegungen, die neben der strikten Kontrolle der Rhythmik nur eins im Sinn zu haben scheinen: die makellose Herstellung jener dynamischen Strukturen, die in der Partitur angegeben sind. Die Philharmoniker füllen die architektonischen Pfeiler, Stränge und Verstrebungen, die ihnen in diesem Koordinatensystem zugedacht sind, mit hemmungslos klarem, prachtvollem Klang - oder mit dem Gegenteil, wo das unmißverständlich vorgeschrieben ist.
Diese Kombination - und Boulez' bei aller Präzision auch vorhandenes Gespür für die Notwendigkeit freier melodischer Entfaltung - machte die Festwochen-Matinee zum Ereignis. Denn auf solche Weise erscheint keiner der Mahlerschen Assoziationseffekte, keine der Figuren dieser musikalischen Allegorie künstlich mit Ausdrucksgehabe erfüllt. Die Musik entfaltet ihre Klangrede, indem sie sich selbst so vollkommen wie möglich darstellt, umso unmittelbarer.
Das sitzt.
So ist diese Symphonie die »Tragische«. Und kein Entrinnen ist möglich. Der schon erwähnte Schlußton schickt den letzten Hoffnungsstrahl in den Orkus. Auch so trifft Musik den Hörer in die Magengrube. Nur so tut sie's ehrlich.
Frühe Berg-Lieder
Zuvor war Suzanne Mentzer indisponiert und entzog sich bei Alban Bergs »frühen Liedern« jedem Widerspruch. Das Orchester befolgte die oben geschilderte Gangart auch in diesem Fall und bewies: Selbst das Schwelgen in Klängen läßt sich so ohne Augenzwinkern realisieren.Es blüht ohne Kunstdünger.