Sir John Barbirolli
Barbirolli ist einer der bestdokumentierten Künstler seiner Zunft. Er war elf, als er seine ersten Schallplattenaufnahmen machte, damals ein vielversprechender Nachwuchscellist in der Ära der beginnenden kommerziellen Tonaufzeichnungen.
Fast sechs Jahrzehnte lang blieb ihm die Arbeit → im Aufnahmestudio dann vertraut.
Italienischstämmig, anglisierte Giovanni Battista Barbirolli bald seine Vornamen und wurde zum Inbegriff des britischen Dirigenten. Für das Kapellmeisterhandwerk interessierte er sich von jeher. Sein Großvater und sein Vater, beide Geiger, hatten anläßlich der Uraufführung von Verdis Otello im Orchester der Mailänder Scala musiziert. Und Giovanni alias John studierte Orchesterpartituren nebenher, als er im Teenager-Alter in die Fußstapfen seiner Ahnen trat und im Orchester von Henry Wood mitspielte - als jüngster der Instrumentalisten.
Mit 18 war er bereits Mitglied der Cellogruppe des London Symphony Orchestra - und war dabei, als Edward Elgar die Uraufführung seines Cellokonzerts dirigierte.
Nach Ende Ersten Weltkriegs konnte Barbirolli bereits daran gehen, sein eigenes Orchester aufzubauen. Ein selbst geformtes Streichorchester saß im Studio, als er 1927 für die »National Gramophonic Society« seine erste Schallplattenaufnahme als Dirigent machte. Mit einem Repertoire, das noch Jahrzehnte später als exzentrisch gegolten hätte: Debussy, Delius, Elgar, Marcello und Warlock standen auf dem Programm.
Zeitgenössisches hatte in Barbirollis Spielplänen lange Zeit einen hohen Stellenwert. Debussys Streichquartett hat er als Celist in jungen Jahren ebenso musiziert wie dessen Cellosonate, die er bereits 1917 in London aufführte.
Chronologisch gesehen ist im reichen Barbirolli-Katalog die 1935 entstandene Einspielung von Chopins f-Moll-Konzert mit Alfred Cortot eine der wichtigsten unter den frühen Aufnahmen. Barbirolli hatte im Dezember 1927 kurzfristig für den erkrankten Sir Thomas Beecham ein Programm des London Symphony Orchestra übernommen - und dafür in wenigen Tagen Edward Elgars umfangreiche Zweite Symphonie studiert.
Partner großer Solisten
Der Erfolg war durchschlagend - HMV nahm das junge Dirigiertalent unter Vertrag - und bat ihn, Aufnahmen mit führenden Solisten aller Genres zu begleiten: Fjodro Schaliapin, Lauritz Melchior und Benjamino Gigli, Jascha Heifetz und Fritz Kreisler, Artur Rubinstein und Arthur Schnabel nutzten die Chance, mit eine ungemein sensiblen, anpassungsfähigen, dabei aber musikalisch charakterfesten Partner zu musizieren.Und eben Cortot, mit dem das Zweite Chopin-Konzert auf wunderbare Weise geang, weil Barbirolli es vermochte, den undankbar-unscheinbaren Orchesterpart vom Begleit-Geraune auf die Ebene eines gleichwertigen Partners des Solisten zu heben. Und das obwohl Cortots rhythmisch freizügiges Spiel höchste Anschmiegsamkeit forderte - und erhielt. Den romantischen Klavierstil, der hier gepflegt wird, mit den Mitteln des Orchesters aufzunehmen, muß bis heute als Meisterleistung gelten. Kein späterer Dirigent hat das je wieder zu realisieren vermocht.
Lebenslang hat sich Barbirolli auch für das Schaffen von Jean Sibelius eingesetzt. Allein die Zweite Symphonie hat er viermal aufgenommen. Die erste dieser Aufnahmen ist legendär. Sie entstand 1940, während Barbirollis Zeit als Leiter der New Yorker Philharmoniker.
Die Musiker, zuletzt an den tyrannischen Ton Arturo Toscaninis gewöhnt, begrüßten den höflichen jungen »Italiener aus England« mit Wohlwollen - und spielten mit Verve und Elan. Allein die ersten Akkord-Repetitionen der Streicher sprechen bände: Großer Ton, vibrierende Spannung. In der Folge ein Reichtum an beredter Artikulation und Phrasierung, die vom Probenaufwand künden, der hier getrieben wurde.
Barbirolli auf Video
Wie Barbirolli diese Flexibilität aus einem Orchester herausholen konnte, ist auf einem Videodokument zu studieren, das den Maestro bei der Arbeit mit dem Boston Symphony Orchestra zeigt: Man gibt Brahms' Zweite Symphonie, eines der »Schlachtrösser« Barbirollis, dem er enorme Leuchtkraft und Dramatik entlockt. Die Schlagechnik des Dirigenten ist elegant, fast anmutig beschwingt, dabei knapp und klar - eine Einladung zum Musizieren bei unmißverständlicher Vorgabe der einzuschlagenden Richtung. Das Legatospiel ist schon beim Eintritt des Hauptthemas in den Geigen von hinreißender Geschmeidigkeit, die Akzente kommen kraftvoll, aber ohne allzu vehementen Nachdruck. Und der Klang leuchtet.Daß am Ende die Musiker ebenso begeistert scheinen wie das Publikum erzählt viel über den Charme und die Überzeugunskraft dieses Dirigenten, ist hier doch einer seiner ersten Begegnungen mit dem amerikanischen Orchester dokumentiert. Was nach Fruch einer langen künstlerischen Partnerschaft klingt, war spontane musikantische Sympathiekundgebung!
Opern-Aufnahmen
1966 entstand eine der besten Puccini-Aufnahmen der Geschichte: Madame Butterfly mit Renata Scotto und Carlo Bergonzi, Barbirolli am Pult des Orchesters der Oper von Rom. Eine Art »Heimkehr« des italienischstämmigen Sir John, der seit seiner Jugend mit Freude an Covent Garden als Opernkapellmeister gewirkt hatte, aber medial fast ausschließlich als Konzertdirigent dokumentiert wurde.
Opernkenner schätzen immerhin - trotz nicht gerade berauschender technischer Qualität - den Livemitschnitt einer Lodoner Aida-Vorstellung mit Maria Callas in der Titelparte von 1953, nicht nur, weil die Diva in Hochform agiert, sondern auch, weil Barbirolli sie auf Händen trägt und ihre interpretatorische Sensibilität facettenreichs aufs Orchester überträgt.
Puccinis Butterfly galt, abgesehen von Purcells Dido und Aeneas (1965) Barbirollis erste Opern-Studioaufnahme. Nach dem Bekenntnis des Dirigenten war es nicht leicht, dem römischen Opernorchester die Routine auszutreiben und Leben in die unbeachteten Details von Puccinis minutiös gearbeiteter Partitur zu bringen.
Die schwierigsten Teile in »Butterfly« sind diejenigen, die keiner bemerkt.
So lautete Barbirollis eigener Befund.