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Sir John BARBIROLLI

Der Meister im Studio

Das Erbe Barbirollis auf Schallplatte ist eminent. 2020 hat Warner die für dieses Label greifbaren Einsielungen des Dirigenten - es ist die Mehrheit - auf 109 CDs wieder veröfentlicht. Bei Sony kamen gleichzeitig die New Yorker Aufnahmen in einer kleineren Box heraus. Eine Offenbarung.

Oscar Wilde legt einer seiner Bühnenfiguren den Satz in den Mund:

Jetzt habe ich endlich begriffen, warum England zu Europa gehört. Wenn England nicht dazugehörte, wäre ja Europa schon Asien.
Also aus »asiatischer« Sicht: Auf den großen Musiker John Barbirolli musste uns eine spektakuläre Edition aufmerksam machen, die sämtliche HMV-Aufnahmen dokumentiert. Sony legte zum Gedenken an den 50. Todestag des Maestros noch die New Yorker Aufnahmen dazu.

Die editorische Großtat rückt einiges zurecht. Unsereins hat einst vielleicht darüber diskutiert, ob man Beethoven lieber von Böhm, Karajan oder Bernstein dirigiert hören möchte. Plattensammler wissen natürlich auch um die Qualitäten von Toscanini, Furtwängler oder Bruno Walter.

Andere Repertoire-Palette

Aber Barbirolli? Was für eine Ignoranz, möchte man jetzt sagen. Sie liegt wohl schon im zuvor gewählten Vergleich. Müssen Beethovens neun Symphonien das Rückgrat jeder Dirigenten-Diskographie bilden? Zwar verfügte Barbirolli über ein ungemein breites Repertoire, doch im Mittelpunkt seiner fast vierzigjährigen Aufnahme-Tätigkeit standen weder die Wiener Klassik, noch die großen deutschen Romantiker - die einzige Ausnahme bilden die vier Brahms-Symphonien, die Barbirolli mit den Wiener Philharmonikern - ja, wirklich! - eingespielt hat.

Mahler, Elgar, Sibelius

Und sonst? Viel Elgar und Delius, viel Sibelius. Für manchen Musikfreund mag schon das ein Anreiz sein. Diese Edition weitet mit Sicherheit den Repertoire-Horizont der meisten privaten Diskotheken. Überdies öffnet sie Klangwelten ungeahnten Ausmaßes. Kein Dirigent hat beispielsweise bei einem Werk wie Gustav Mahlers Neunter Symphonie das Stimmengewebe so bis auf den Grund durchforstet wie Barbirolli. Mahler erträumt sich ja hier über weiten Strecken so etwas wie göttliches Chaos. Und die Berliner Philharmoniker (lange vor Karajans Landnahme in diesem Revier) realisieren jede einzelne Phrase mit einer an vegetative Prozesse erinnernden Unmittelbarkeit, jeder für sich, doch in höchster, scheinbar planloser Harmonie.

Beethoven »con brio«

Barbirolli verliert nie die Übersicht, agiert aber immer wie ein Maler, der mit Lust Farben auf seiner Leinwand aufträgt. Über Jahrzehnte hat er mit seinem Hallé-Orchester in Manchester, aber stets auch mit anderen Orchestern seinen unverwechselbaren, sinnlichen Klang geformt. Der redet zum Hörer. Unausweichlich. Apropos Beethoven: Es genügt, die ersten beiden Akkorde der Eroica unter Barbirollis Leitung zu hören, um zu begreifen, was con brio heißt. Es ist keine Frage des Tempos.

Verdis »Otello«-Sturm

Es genügt auch, die ersten fünf Minuten des "Otello" zu hören, um zu wissen, dass Verdi hier kein gigantisches Klangdickicht komponiert hat, sondern eine Versammlung von nervös-erregten Individuen schildert, denen der Sturm um die Ohren saust. Dazu muss man nicht ununterbrochen Fortissimo spielen. Man kann auch Musik machen.

Das hat Barbirolli sein Leben lang getan. Apropos Otello: Vater und Großvater des Dirigenten saßen im Orchester anlässlich der Mailänder Uraufführung und berichteten von Verdis zahlreichen Änderungswünschen. Die von seinen Zeitgenossen hat Barbirolli selbst eingeholt. Und bei Haydn, Schubert oder Tschaikowsky hat er offenbar instinktiv gewusst, wie man ihre Musik lebendig und beredt zum Klingen bringt.




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↑DA CAPO