La Traviata

Ein Opern-Psychogramm

»Traviata«, eine »vom Weg Abgeirrte« nennt sich Violetta Valéry selbst - in einem Moment, da ihr niemand widersprechen könnte: Es ist das stille Gebet einer verzweifelten jungen Frau, die sich dem Tod nahe fühlt, die fürchtet, ihren Geliebten nie wieder sehen zu können und die Gott um Verzeihung bittet. Ein intimer Akt der Selbstbespiegelung. Violetta ist in diesem Moment allein - und scheint doch gefangen in den Fesseln der Sitten und Konventionen ihrer Zeit.

Die selbstbestimmte Frau

Ihren eigenen Weg ist sie gegangen, eine freie, selbstbestimmte Frau in Zeiten rigider gesellschaftlicher Normen. Diese Freiheit hat sie bezahlt. Der Weg, den sie gewählt hat, war nicht der Pfad der Tugend: Eine wie sie gilt als »Traviata«. Violetta stellt diese Kategorisierung nicht einmal in Frage. Sie fleht um Gnade.

Giuseppe Verdi hat dieses Schicksal in Musik gesetzt und die Wahrhaftigkeit seiner Klänge berührt die Welt seither: Die »Traviata« wurde zu einer der meistgespielten Opern der Aufführungsgeschichte.

Mißglückte Premiere

Verdi hat das geahnt und war sich seines Werks auch sicher, nachdem es bei der Uraufführung in Venedig durchgefallen war. Er war überzeugt, »daß das letzte Wort über die ›Traviata‹ gestern nicht gesprochen wurde«, schrieb er am Tag nach der verunglückten Premiere. Er sollte recht behalten.

Die Zensur wütet

Dabei hatte man ihm kräftig am Zeug geflickt. Die Zensur befand es als skandalös, daß auf der Opernbühne plötzlich keine antiken oder mythologischen Figuren singen sollten, sondern Menschen der Gegenwart, noch dazu solche, die sich im Salon einer Pariser Lebedame bewegen und einander um die Gunst einer Kurtisane in die Haare kriegen.

Man möge das Stück »in der Zeit Richelieus« spielen lassen, beschieden die Kunstrichter - und tatsächlich nennen die erste Klavierauszüge »das 17. Jahrhundert« als Zeit der Handlung.

Zauber der Belle Époque

Dabei kann die Geschichte, wie sie uns Alexandre Dumas Fils in seinem Roman »La Dame aux Camélias« erzählt, nur in der Belle Époque ihren ganzen melancholischen Zauber entfalten. Die Uraufführung der dramatisierten Version, 1852, gilt - ein Jahr, bevor Verdi das Stück komponierte - als Geburtsstunde des realistischen Theaters. Die Pariser Gesellschaft sah sich selbst, bekam die Grausamkeit ihres Systems vor Augen geführt und konnte sich gleichzeitig an der Hochherzigkeit der Titelheldin weiden, die ihr Leben und ihre Liebe diesem System zum Opfer bringt.

Die Neue Zensur: Regietheater

Weder »in der Zeit Richelieus« noch - apropos Regietheater - im angehenden 21. Jahrhundert ist die Geschichte glaubwürdig erzählbar.

Wo wäre heute der Schwiegerpapa, der sich um die Ehre seiner Tochter sorgt und fürchtet, sie nicht unter die Haube zu bekommen, weil der Sohn an der Seite einer Kurtisane lebt? Mitte des 19. Jahrhunderts aber war das so aus dem Leben gegriffen wie das Duell zwischen den Rivalen und die Tatsache, daß man es so schockierend wie aufregend fand, im Theater vorgeführt zu bekommen, was sonst nur hinter vorgehaltener Hand geflüstert wurde.

Musiktheater-Neulandy

Nur eingezwängt in dieses gesellschaftliche Korsett, kann der Knäuel aus Leidenschaften, Fixierungen und Zwängen effektvoll zur Explosion kommen, gipfelnd in der öffentlichen Demütigung einer jungen Dame durch ihren Liebhaber, der die menschliche Größe, die zu seiner Abweisung geführt hat, so wenig erkennen kann wie alle Umstehenden. Verdi ballt hier alle Kräfte zu einem grandiosen Ensemble, dessen psychologische Differenzierung eine neue Ära in der Geschichte des Melodramma einleiten. Hellhörige könnten schon den ersten Takte des Orchestervorspiels des Komponisten Absicht verraten, völlig neue Wege zu gehen: Nur Wagners »Lohengrin« hebt in jener Zeit vergleichbar irreal-schwebend mit vielstimmigen Violin-Klängen an - um ebenfalls musikdramatisches Neuland zu erobern.

Musikalische Kontraste

Mit seiner Traviata bricht Verdi auch inhaltlich mit allen Konventionen. Die Todesahnung, die im Vorspiel mitschwingt, weicht mit Aufgehen des Vorhangs exuberanter Festesfreude. Wir finden uns in einem Pariser Salon - Verdi holt das pralle Leben seiner Zeit auf die Opernbühne. Vorbei ist es mit Kaisern, Göttern, Druiden - die Realität erobert das Musiktheater. Auch die Charakterisierung der Figuren, der Titelheldin zumal, ist für die damalige Zeit geradezu avantgardistisch. Zwei entscheidende Verwandlungen erlebt sie auf offener Bühne - und wir mit ihr: Da ist einmal die Erkenntnis, daß der Funke diesmal übergesprungen ist und Violetta selbst sich ernstlich verliebt hat.

Opern-Formen und Dramaturgie

Dieser Einsicht verdanken wir die Final-Szene des ersten Akts, für die Verdi eine aus der Notwendigkeit des Dramas geborene Neudefinition einer alten italienischen Form vornimmt: Die zweiteilige Solo-Szene aus (lyrischer) Arie und effektvoller Schluß-Stretta (Cabaletta genannt) wird zum vollkommen stimmigen Sinnbild von Violetta Selbst-Reflexionen: Sie will die »Narreteien« aus ihrem Kopf verscheuchen, doch Alfredos Liebesmelodie hat ihr den Kopf verdreht.

Vollends modern wirkt die Verschmelzung von textlicher und musikalischer Dramaturgie im zweiten Akt: Die Konfrontation von Vater Germont und Violetta, aufgelöst in viele kleinteilige musikalisch Prozesse, kleinste »Ariosi«, wenn man so will, die sich zu einem nervös-kleinteiligen, aber zuletzt doch vollkommen gerundeten Seelenbild fügen: Große Gestalterinnen finden hier die Möglichkeit, in ihrer Stimme den Wandel hörbar zu machen, der die verzweifelte junge Frau zuletzt dazu bringt, ihrer Liebe zu entsagen.

Komplexe Primadonnen-Rolle

Hier liegt die eminente Herausforderung, die gerade diese Violetta zu einer der komplexesten, schwierigsten Sopranpartien macht. Opernkenner wissen: Es gibt Interpretinnen, die ideal für den ersten Akt der »Traviata« sind, die glamouröse Gesellschaftsdame, die funkelnder Koloraturen mächtig ist. Und es gibt wunderbare Gestalterinnen für die beiden folgenden Akte, denen es dann allerdings meist an der Virtuosität für die Cabaletta im ersten Finale gebricht. Brillante Technikerinnen, die diese Tour de Force (mit oder ohne hohes Es, das übrigens nicht in der Partitur steht!) sicher absolvieren, fehlt dann meist die Ausdruckskraft, die Farbenvielfalt für den Rest der Oper. Die Geschichte, ob nun mehr oder weniger perfekt realisiert, berührt die Menschheit aber ungebrochen bis heute.

Die Emotionen, die Verdi jeweils mit wenigen Strichen wachruft, trotzen allen Widrigkeiten musikalischer oder auch szenischer Natur. Sogar die rüde Unterbrechung des dramatischen Verlaufs der Musik durch Einschub der Pause vor dem dritten Bild, das eigentliche Finale und der Kulminationspunkt des zweiten Akts, hat das Werk stets überlebt.

Verdis »Traviata«


↑DA CAPO