Otello singen?

Stilfragen

Verdis vorletzte Oper gilt als eines der am schwierigsten zu besetzenden Werke der italienischen Opernliteratur. Der Sänger der Titelpartie muß über Kräfte verfügen wie Wagners stärkste tenorale Helden, doch muß er auch die Anforderungen erfüllen, die Verdi selbst in diesem - in seier Heimat nicht selten als allzu offenkundige Hommage an den Bayreuther Kollegen verunglimpften - Werk von seinen Interpreten noch verlangt. Vor allem Letzteres galt schon zu Zeiten der Uraufführung der Oper als rar; mittlerweile scheinen die Tenöre, die beide Tugenden in sich vereinen, ausgestorben zu sein.

Jedenfalls verlangen feinfühligere Opernkenner von einem Otello-Darsteller mehr als die berühmten Tenöre der jüngeren Vergangenheit im allerbesten Fall zu bieten imstande waren. Hie und da versucht ein Sänger sogar, die Sache von der lyrischen Seite her anzugehen - am meisten beachtet wurden die beiden Aufnahmen, die Jonas Kaufmann um 2020 vorlegte, eine aus London auf Video, eine später akustisch »verbesserte« Version für die CD-Ausgabe.
Doch hier werden in den dramatischen Momenten doch schwere Mängel deutlich. Kaufmanns unmittelbare Vorgänger - allen voran Placido Domingo - haben doch mehr auf Kraft und Ausdauer gesetzt und ihren schon schwer gewordenen Stimmen die lyrischen mit Mühe abgetrotzt; blieben dabei die von Verdi so oft geforderten Piani und Pianissimi in der Regel schuldig.

Lange Zeit war der Otello im Alleinbesitz von Forte-Sängern der Marke Mario del Monaco oder Wladimir Atlantow - was dem Publikum imposante Abende bescherte, bei denen freilich nur ein Bruchteil dessen realisiert wurde, was in der Partitur an Differenzierungskunst verlangt wird.

Historische Dokumente

Einige historische Tondokumente lassen uns immerhin ahnen, wie Tenöre, die noch von Verdis selbst ihre Instruktionen erhalten haben, mit der Partie umgegangen sind. Glücklicherweise existiert sogar eine Aufnahme des heldischen Auftritts während der Sturmszene des ersten Akts mit dem Otello der Uraufführung, Francesco Tamagno. Und diese Aufnahme rückt vielleicht doch einiges zurecht: Was am allermeisten auffällt, daß Tamagno, dessen Tenor zweifellos seit der Uraufführung schwer gealtert war, sich besonders viel Zeit nimmt, um den Text verständlich zu deklamieren. Er singt die Passage nicht wie ein Stentor, der mit Lautstärke nach Effekt hascht, sondern gestaltet eine intensive, klar verständliche und respektgebietende Ansprache an sein Volk. Da steht in knapp 45 Sekunden eine geborene Herrscherfigur vor uns.

Der jüngere Giovanni Zenatello sang etwa zur selben Zeit - noch im vollen Saft seines Tenors - die Passage noch eindrucksvoller, aber in derselben, souverän deklamierenden Manier. Das ist gewiss kein Zufall und lehrt die Hörer ein Jahrhundert später, wie weit sich die Interpretationen stilistisch von der damaligen, jungen Überlieferung entfernt haben.


Der »Monolog«

Der große Test folgt für den Tenor dann im dritten Akt. Der Monolog im Zentrum des Akts zeigt ihn bereits als zerstörte, seelisch vollkommen korrumpierte Existenz. Die ersten Phrasen »singt« dieser Otello nicht mehr, sondern deklamiert auf einem einzigen Ton, einem As, muß also farblich und dynamisch zu minutiösen Schattierungen fähig sein, was in der jüngeren Vergangenheit meist zu fahler Eintönigkeit (im gesamten Wortsinn!) geführt hat. In der Folge steigt die vokale Fieberkurve von verhalten-lyrischen Phrasen hin zu höchster Erregung. Verdi kostet in wenigen Minuten das gesamte Spektru gesanglicher Kunst aus - oder gibt seinem Interpreten zumindest den Auftrag dazu.

Innerhalb dieser von Verdi gesetzten, weit gezogenen Grenzen, müßte sich hier ein vokaler Drahtseilakt ereignen, der die seelische Verfassung des Titelhelden mit msuikalischen Mitteln volllommen bloßlegt.

Wiederum sind es Aufnahme-Fragmente, die hören lassen, wie frühere Generationen von Gestaltern mit solchem »Material« umzugehen wußten. Sogar ein deutscher Tenor konnte hier ins Allerheiligste der italienischen Musikdramatik vordringen. Was Lauritz Melchior in seiner - natürlich Deutsch gesungenen - Aufnahme leistet, gehört zu den wirklich außerordentlichen Dokumenten großer Opernkunst - zumal auch die Orchesterbegleitung beachtliches Niveau erreicht: Am Pult stand Sir John Barbirolli!

↑DA CAPO