Jérusalem (I Lombardi)
→ DISKOGRAPHISCHE EMPFEHLUNGEN
zu den subjektiven Prinzipien
In derfinden Sie zunächst ein, zwei oder drei Epfehlungen von Aufnahmen, in denen die Balance zwischen technischer Beschaffenheit der Aufnahme und künstlerischer Qualität die Waage hält, sodaß möglichst ganzheitlich befriedigende Hörerlebnisse zu erwarten sind.
Sodann folgen - in der Regel chronologisch nach Aufnahmedatum - Aufnahmen, die zumindest in Hinsicht auf die eine oder andere interpretatorische Einzelleistung Beachtung verdienen, mögen sie ingesamt auch unausgewogen oder technisch in unbefriedigendem Zustand sein.
Die Partien
in der Reihenfolge:
Gastone, Viconte di Bearn -
Il Conte di Tolosa -
Ruggero -
Ademaro de Montheil -
Raimondo -
Elena -
Isaura -
Der früheste Livemitschnitt eines Versuchs mit dieser zweiten Version der Oper (die französische Fassung der Lombarden, italienisch gesungen unter dem Titel Gerusaleme) bleibt der empfehlenswerteste, vor allem deshalb, weil der blutjunge Giacomo Aragall und Leyla Gencer hier im vollen Saft ihrer Stimmen ohne Rücksicht auf Verluste auf riskantestes vokales Theater setzen - und gewinnen. Das ist gewiß nicht das, was man ein wenig später unter »guter Schule« verstand; vor allem deshalb nicht, weil Gencer bedenklich zum Distonieren neigt, aber es ist lebendigste Oper - und damit ein Plädoyer für ein vernachläßigtes Jugendwerk des Komponisten.
Gianandrea Gavazzeni -
Giacomo (Jaime) Aragall, Emilio Salvoldi, Giangiacomo Guelfi, Antonio Zerbini, Franco Ghitti, Leyla Gencer, Mirella Fiorentini
(Venedig, 1963)
Die Produktion des Teatro La Fenice gastierte im Jahr darauf in München, wiederum mit Gencer und Aragall in den Hauptpartien und noch etwas edler besetzt in den tiefen Männer-Registern. Auch davon hat sich ein Mitscnitt erhalten:
Ettore Gracis - Giacomo (Jaime) Aragall, Renato Bruson, Ruggero Raimondi, Massimiliano Malaspina, Leyla Gencer, Aida Meneghelli, Alessandro Maddalena (München 1965)
I Lombardi
Die italienischsprachige Urfassung nannte sich I Lombardi alla prima crocciata und entstand zwischen Nabucco und Ernani. Von dieser Version gibt es eine hörenswerte Gesamtaufnahme unter Gianandrea Gavazzeni von 1969 aus Rom mit den jungen Stimmen von Renata Scotto, Luciano Pavarotti und Ruggero Raimondi.
Im Gefolge dieser Einstudierung haben dann Plácido Domingo (1971 in London) und José Carreras (1984 an der Mailänder Scala) die Partie des Oronte - sie besteht im wesentlichen aus der Auftrittsarie, einem Duett und der Führungsrolle im Terzett - in ihr Repertoire aufgenommen. Pavarotti sang sie noch Mitte der Neunzigerjahre unter James Levine in New York - im Gefolge der Wiederaufahmen der Premierenproduktion von 1993 entstand 1996 eine aufwendige Studioproduktion mit June Anderson, Samuel Ramey und dem jungen Ildebrando d'Arcangelo in der kleinen Rolle des Pirro, in der er sich momentweise mühelos in den Vordergrund singt.
Das genannte Terzett war der beliebteste Ausschnitt aus Verdis Oper, die im übrigen ein Schattendasein fristete. Von dieser virtuosen Nummer, einem Vorläufer des berühmten Rigoletto-Quartetts, gab es schon Einzelaufnahmen in der frühen Schellack-Zeit. Es fanden sich so illustre Sänger-Trios im Studio ein wie → Enrico Caruso, Frances Alda und Marcel Journet (1912)
oder → Beniamino Gigli, Elisabeth Rethberg und Ezio Pinza (1930).
Versuch in Wien
Die Wiener Staatsoper versuchte es 1995 mit der französischsprachigen Originalversion der Oper, Jérusalem
→ zur Premierenkritik
Verdi-Premiere der Komparative
"Jerusalem", ein zwischendurch immer wieder qualitätsvolles Werk aus Giuseppe Verdis Frühphase, kam an der Staatsoper unaufdringlich zur Erstaufführung.
Die Inszenierung, neu zwar, wirkt dennoch altvertraut. Robert Carsen hat vor einer von Michael Levine errichteten monumentalen romanischen Mauer, in der Schießscharten den je nach Bedarf milden oder grellen oder auch nicht vorhandenen Lichteinfall kanalisieren, auf stimmige, gar nicht irgendwie penetrant "regietheaterliche" Weise eine Handlung erzählt.
Kraftvoller, agiler Chor
Die wiederum muß man im Detail nicht nachlesen, denn sie ist mit all ihren Unglaubwürdigkeiten Vorwand für musikalische Situationsdramatik, wie Verdi sie immer geliebt hat.
Also findet der Opernfreund nach einem etwas mühsamen ersten Akt vieles von dem, was er in anderen Jugendwerken des Komponisten schätzt, freut sich über Deja-vu-Erlebnisse, die das musikdramatische Pflänzchen "Jerusalem" mit manch späterem Edelgewächs verbindet, sei's die "Macht des Schicksals" oder auch "Aida", deren "Gerichtsszene" ahnungsvoll vorausklingt. Überdies erfährt der Hörer, wie das ist, wenn ein Genie, das soeben mit einem Gefangenenchor zum Volkshelden geworden ist, den eigenen Erfolg zu wiederholen trachtet. Dergleichen Spekulation geht selten auf; auch dann nicht, wenn der diesmal zu Recht bejubelte Staatsopernchor darstellerisch kunstvoll gebeugt und ermüdet, stimmlich aber agil und kraftvoll einen Pilgerchor gestaltet. Wie auch immer: Das Werk bietet drei Hauptdarstellern Gelegenheit, vokale Kunstfertigkeiten zu demonstrieren. Es fordert diese auf so unbescheidene Weise, daß es leicht fällt, den Sängern dieser Erstaufführung Schwächen nachzuweisen. Jose Carreras entzog sich dem. Er ließ sich als indisponiert entschuldigen. Eliane Coelho kämpfte sich hingegen bei voller Gesundheit durch die enormen Anforderungen der Helene. Verdi schreibt ihr alles vor, was ein Sopran zu seiner Zeit können mußte. Und das war viel - vom zartfühlenden "Ave Maria" über den virtuosen Leidenschaftsausbruch in Koloraturform bis hin zur kräfteraubenden Adagio-Arie, die wirkt, als bestünde sie aus einer einzigen, vielfach zu schattierenden, atemberaubenden Phrase.
Strahlender Ramey
Da ließe sich nun freilich trefflich wieder erwähnen, daß Maria Callas lang schon tot sei. Allein: Welche Diva unserer Tage trotzt solchen Herausforderungen mit dermaßen bestechender Virtuosität, daß man im Vergleich Frau Coelho in die imaginäre "zweite Reihe" verweisen dürfte? Sie hat Temperament genug, um über die bloß untadelige Bewältigung der vielen vokalen Hürden hinaus auch noch manch gestalterischen Akzent zu setzen weiß. Ein Realist muß ihr dafür lauten Applaus zollen.
Samuel Ramey erhielt den noch lauteren. Er imponiert nicht nur den Damen, wenn er mit nacktem Oberkörper auf Pilgerfahrt geht. Er ist auch sonst eine der markanten Erscheinungen des heutigen Musik-Geschäfts, orgelt vielleicht in der Tiefe nicht ganz so durchschlagkräftig, wie Verdi sich das erträumt haben mag, trumpft aber mit baritonal strahlenden Höhen auf und weiß sich überhaupt gegen das von Zubin Mehta nach einem konzentrationsfördernden Schmiß in der Ouvertüre animiert und schwungvoll entfachte Habt Acht! und Tandaradei des Orchesters durchzusetzen.
Angesichts dessen, angesichts guter Leistungen aller Darsteller der kleineren Rollen und auch einiger zauberhaft hingetupfter Holzbläserfarben von einem Abend der Superlative zu sprechen, verbietet sich, gewiß. Der eine oder andere Komparativ aber ist nicht nur gegenüber der 183. Vorstellung der "Traviata" oder mancher Verdi-Premiere, sagen wir, der Mailänder Scala, durchaus angebracht.
↑DA CAPO