Jacques Offenbach    

Hoffmanns Erzählungen
(»Les contes d'Hoffmann«)

Jacques Offenbach

Uraufführung: Paris, 1881

PERSONEN DER HANDLUNG

Hoffmann (Tenor) – La Muse, Nicklausse (Mezzosopran) – Lindorf, Coppélius, Dr. Miracle, Dapertutto (Baß - Bariton) – Andrès, Cochenille, Frantz, Pitichinaccio (Tenor) – Olympia, Antonia, Giulietta, Stella (Sopran) – Die Stimme von Antonias Mutter (Alt) – Nathanaël, Student (Tenor) – Hermann, Student (Bariton) – Spalanzani (Tenor) – Schlémil (Bariton) – Crespel (Baß) – Luther (Baß)

Berlin, München, Venedig, um 1820.



HANDLUNG

Vorspiel
Die Muse des Dichters Hoffmann ist eifersüchtig: Hoffmanns Geliebte, die Sängerin Stella, feiert an diesem Abend Triumphe als Donna Anna in Mozarts Don Giovanni. Der Dichter wartet indessen ungeduldig in Luthers Weinstube auf das Ende der Vorstellung. Um ihre Hand schützend über Hoffmann zu halten, nimmt die Muse die Gestalt seines Freundes Niklaus an. Lindorf, in Stella verliebt, will seinen Rivalen ausstechen. Er kauft dem Boten einen Brief Stellas ab, in dem sie Hoffmann den Schlüssel zu ihrer Garderobe übersendet.

Hoffmann unterhält derweilen die Studenten in der Weinstube mit Geschichten und der Ballade vom Zwerg Kleinzack.

Il était une fois à la cour d'Eisenach

Doch selbst innerhalb dieser Erzählung verliert er sich ins Schwärmen und träumt von seiner Geliebten.

Reichlich Weingenuß sorgt dafür, daß Hoffmann sich immer weiter in Erinnerungen verliert und zu erzählen beginnt.

1. Akt
Olympia hießt die von Spalanzani erfundene automatische Puppe, die als seine Tochter einträgliche Vorstellungen gab, um ihn von seiner Schuldenlast zu befreien. Hoffmann verliebt sich in Olympia und kauft beim sinistren Händler Coppelius eine Brille, durch die er Olympia in zauberisch verklärter Schönheit erblickt. Spalanzani versucht Coppelius, der seinen Anteil an Olympias Konstruktion hat, mit einem ungedeckten Scheck abzuspeisen. Inzwischen lauschen die Gäste entzückt dem Gesang der Puppe.

Les oiseaux dans la chamille

Während des Diners kann Hoffmann Olympia seine gestehen. Bei einem darauffolgenden Tanz gerät der Mechanismus der Puppe vollkommen außer Rand und Band. Hoffmann verliert seine Brille verliert und muß mit ansehen, wie Coppelius die Puppe aus Rache dafür, daß er geprellt wurde, in Stücke schlägt. Die Gäste verspotten Hoffmann, als der aus seinen Wahnvorstellungen erwacht.

2. Akt
Antonia singt in Erinnerung an ihre Liebe zu Hoffmann ein melancholisches Lied.

Elle a fui, la tourterelle

Ihr Vater verbietet ihr das Singen. Schon die Mutter hatte sich »zu Tode gesungen«. Den Diener Franz bittet er, niemanden ins Haus zu lassen. Hoffmann aber gelingt es, zu Antonia vorzudringen.

Duett, C'est une chanson d'amour

Versteckt, wird Hoffmann Zeuge eines Streits zwischen Crespel und Doktor Mirakel, den Crespel für den Tod seiner Frau verantwortlich macht. Als Mirakel auch von Antonia verlangt, zu singen, während er ihr den Puls fühlt, jagt ihn Crespel aus dem Haus. Auch Hoffmann beschwört Antonia, vom Singen abzulassen. Sie möge den Ruhm einer Sängerkarriere gegen das Glück an seiner Seite tauschen.

Doch Doktor Mirakel kehrt zurück und malt der allein gebliebenen Antonia das Glück einer Sängerkarriere in den schönsten Farben. In einer Vision ertönt die Stimme der Mutter - und Antonia stimmt mit ein. Zu spät erscheinen Crespel und Hoffmann. In der musikalischen Ekstase ist Antonia gestorben.

3. Akt
Niklaus und die venezianische Kurtisane Giulietta besingen die Wonnen einer Liebesnacht

Barkarole. Belle nuit, o nuit d'amour

Hoffmann preist den flüchtigen Genuß der sinnlichen Lust.

Amis! L'amour tendre et rêveur, erreur!

Giulietta verführt ihn zum Spiel. Niklaus warnt vergeblich: Der dämonische Dapertutto, dem Giulietta verfallen ist. Gesellt sich hinzu

»Spiegelarie«. Scintille, diamant

Er verspricht Giulietta einen Diamanten, wenn sie ihm Hoffmanns Spiegelbild ausliefern kann, wie er ihr einst den Schatten Schlemihls als Preis für ihre Gunst verschafft hatte. Hoffmann hat alles Geld verspielt und überläßt Giulietta im sinnlichen Liebesrausch sein Spiegelbild. Dapertutto spielt nun die Rivalen Schlemihl und Hoffmann gegeneinander auf. Als Hoffmann Schlemihl getötet hat, sieht er Giulietta lachend mit Pitichinaccioin einer Gondel mit davonfahren.

Nachspiel
Hoffmanns Erzählungen sind zu Ende. der Dichter liegt betrunken in der Weinstube. Niklaus ist überzeugt, daß die drei Frauen für Hoffmann in Stella vereint sind. Doch Lindorf hat nun leichtes Spiel. Als die Primadonna nach erfolgreicher Vorstellung erscheint, kann er sie an seinem Arm heimführen. Hoffmann singt noch eine letzte Strophe der Ballade vom Kleinzack. Er weiß: die Muse, in die sich »Niklaus« wieder verwandelt hat ist seine wahre Geliebte.

Das Werk

Offenbachs Werk ist eine der beliebtesten französischen Opern im Repertoire - und gleichzeitig eines jener Werke, deren wahre Gestalt vermutlich nie ans Licht kommen wird. Die Entstehungs- und Aufführungsgeschichte ist überlagert von einem Wust an Bearbeitungen, schwerwiegenden Veränderungen, drastischen Kürzungen - und eine endgültige Version der Partitur nach dem Willen des Komponisten konnte bis heute nicht rekonstruiert werden.

Die Vorlage

Schon die Frage nach der Vorlage für das Stück ist so leicht nicht zu beantworten. Tatsächlich beruhen die »Erzählungen« auf Texten E. T. A. Hoffmanns, doch hat Offenbach sie nicht im Original, sondern in einer theatralisch adaptierten Version kennengelernt. In einem »Hoffman«-Boulevardstücke von Barbier und Carré, das im März 1851 im Pariser Odéon herauskam, erschienen Motive aus folgenden Erzählungen Hoffmanns:

  • Der Sandmann (1816)
  • Rat Crespel (1818)
  • Die Abenteuer der Silvester-Nacht (1815)
  • Der goldne Topf
  • Klein-Zaches.
  • Daraus wählte Offenbach für sein Opernsujet die ersten drei genannten Geschichten für die Episoden mit Olympia, Antonia und Giulietta. Klein-Zaches erscheint in Hoffmanns Ballade im Vorspiel, die Figur des Lindorf stammt aus dem Goldenen Topf.

    Musikalische Form

    Offenbachs Individualität, an der Operette geschult, verleugnet sich auch im Versuch mit der großen Oper nicht. Viele der »Arien« im Hoffmann sind strophenförmige Couplets, wie er sie sein Leben lang geschrieben hatte - und wären in anderem Zusammenhang auch von Schauspielern vorzutragen. Tatsächlich dachte Hoffmann auch an eine Version für die Opéra Comique mit gesprochenen Dialogen.

    Die Ausarbeitung des Werks für die große Opernbühne verlieh dann Nummern wie den großen Duetten mit Antonia und Olympia ihren Charakter, ebenso den großen Ensembles. Die Stimmungswelten, die er im Antonia-Akt beschwört, sind von unheimlich-tiefgründiger Suggestiv-Kraft.

    Die Versuche, eine musikwissenschaftlich glaubwürdige Partitur herzustellen, sind dank der zersplitterten Aufführungsgeschichte des Werks zum Scheitern verurteilt - Offenbach mußte schon für die Uraufführung Änderungen vornehmen und spätere Einstudierungen haben massive Eingriffe in die Werkstruktur vorgenommen - abgesehen von Kürzungen auch Umstellungen der Reihenfolge der Akte. Eine inhaltliche Verbesserung für die Dramaturgie haben die fortwährenden Neu-Editionen der Partitur mit immer neu aufgefundenen Szenen und musikalischen Passagen kaum gebracht; abgesehen von der extremen Aufwertung der Figur des Niklaus/Muse.

    Die Grundsubstanz der Musik ist letztlich gleich geblieben - und die geniale Charakterisierungskunst Offenbachs war schon in den gekürzten Fassungen vollständig befriedigend offenbar geworden.

    Für Koloratursoprane bietet die Olympia hinreißendes Spiel- und Gesangspotential, die Antonia kann zu innigen, dramatisch tiefgehender Wirkung kommen. Hoffmann selbst ist ein ungemein vielschichtiger, reicher Charakter - und eine Paraderolle für einen Tenor - obwohl sie ursprünglich für einen Bariton gesetzt war und erst im letzten Moment »umgewidmet« wurde.

    Die Aufführungspraxis, die gern alle drei Frauenrollen mit einer Sopranistin und die »Bösewichte« mit einem Baßbariton besetzt, hat dramaturgisch zwar allerhand für sich - doch erschwert zumindest der extrem unterschiedliche Charakter der Frauenfiguren eine adäquate Besetzung.

    Eine der überzeugendsten Wiedergaben des Werks gelang anläßlich der Neuinszenierung an der Wiener Staatsoper im Jahr 1993. Die kurzfristige Absage der für die drei Frauenpartien angekündigten Cheryl Studer bescherte dem Haus das sensationelle Debüt des »Koloraturwunder« Natalie Dessay als Olympia. Dazu Bryn Terfel in den drei Rollen der »Finsterlinge« und Placido Domingo in der stimmlichen Form seines Lebens als Titelheld. Die Aufführung ging als Sternstunde in die Annalen ein. Der Livemitschnitt ist bei Orfeo auf CD erschienen.

    Aberglaube

    Wie sonst nur noch im Falle von Verdis Macht des Schicksal geht in Theaterkreisen die Legende um, an Hoffmanns Erzählungen hafte ein Fluch. Dem stehen zwar unzählige erfolgreiche Produktionen des Werks entgegen. Doch war Offenbach tatsächlich vom Pech verfolgt: Das Pariser Théâtre Lyrique, das für 1877 die Uraufführung avisiert hatte, ging bankrott.
    In jener Phase präsentierte der Komponist die schon komponierten Teile des Werks in einem Privatkonzert vor 300 geladenen Gästen - in der Form eines »Drame lyrique«, das mit einer Apotheose endete.

    Als der Komponist der Opéra Comique zur Aufführung antrug, mußte er den dortigen Gepflogenheiten entsprechend ohnehin die Rezitative durch Dialoge ersetzen. Das war der Punkt, an dem aus Hoffmann ein Tenor wurde.

    Doch Offenbach erlebte den Premierentag nicht. Er starb während der Probenzeit. Deshalb liegen nur Prolog und die ersten beiden Akte von seiner Hand vor. Ernest Guiraud instrumentierte die erhaltenen Skizzen und ergänzte Musik, wo ihm das nötig schien. Es scheint sicher, daß Offenbach mit Ausnahme des Epilogs (bzw. des 5. Akts) den gesamten Werkverlauf zumindest als Klavierauszug fertiggestellt hatte.

    Guiraud schuf 1881 auch im Auftrag der Wiener Hofoper jene Rezitativ-Fassung, die später bei allen Aufführungen verwendet wurde.

    Schon vor der Uraufführung kürzte man die Rolle der Muse gravierend zusammen. Auf den Venedig-Akt wurde gänzlich verzichtet. Der Ohrwurm daraus, die Barkarole, die - wie das Trinklied Hoffmanns aus diesem Akt - ursprünglich aus der in Wien rettungslos gescheiterten Oper Die Rheinnixen stammte, spielte man als Zwischenaktmusik vor dem Antonia-Akt. Das Duett Hoffmann/Giulietta wurde zu einem von Offenbach nicht vorgesehenen Dialog zwischen Stella und dem Dichter im Epilog.

    Für spätere Einstudierungen wurde der Venedig-Akt wieder hergestellt und um die Arie des Dapertutto und das große Septett erweiterte. Die Arie erhielt dank der deutschen übersetzung des Textes den Spitznamen Spiegelarie, sollte aber eigentlich Diamantenarie heißen, denn es ist im Französischen von einem Edelstein, nicht von einem Spiegel die Rede.

    Verwirrende Editions-Lage Hier gab es bald Zweifel an der Autorschaft, denn die beiden Nummern werden dem Guiraud-Schüler André Bloch zugeschrieben - der für das Septett auf die Musik der Barkarole zurückgriff, für die Arie auf eine Melodie aus der Operette »La Voyage dans la lune«.

    Daß Offenbach ursprünglich auch eine Arie für Giulietta vorgesehen hatte entdeckte man erst 1984, als das Manuskript wieder zum Vorschein kam. Die bisher letzte Entdeckung war das originale Finale des Giulietta-Aktes, das 1998 in Paris versteigert wurde.


    Die wieder insgesamt fünfaktigen Version kam - auf Basis des damals bekannten Materials - 1904 in Monte Carlo zur Erstaufführung und lag in der Folge den meisten internationalen Aufführungen zugrunde.

    Der »Fluch« äußerte sich freilich auch in tragischen Begleitumständen mancher Aufführungen. Anläßlich der deutschsprachigen Erstaufführung in Wien am 7. Dezember 1881 brannte das vollbesetzte Ring-Theater nieder - eine der größten Theater-Brandkatastrophen der Geschichte mit (offiziell) 384 Toten.

    Die Editionsprobleme schienen erst 1977 mit der Publikation der historisch-kritischen Partiturausgabe von Fritz Oeser (unter Mitarbeit von Antonio de Almeida) gelöst. Damit wurde vor allem die Partie der Muse wieder in Recht gesetzt. Doch der Fund des originalen Manuskripts des Librettos in Paris ließ wieder neue Fragen aufkommen und entlarvte manche Details von Oesers Ausgabe als Willkürakte.



    ↑ DA CAPO