Boris Godunow

Musikalisches Volksdrama von Modest Mussorgsky (1872/1874)

Text vom Komponisten nach dem Drama von Alexander Puschkin (1831).

PERSONEN Boris Godunow (Baß) – Fjodor und Xenia, seine Kinder (Mezzosopran, Sopran) – Xenias Amme (Mezzosopran) – Fürst Wassilij Iwanowitsch Schuiskij (Tenor) – Schtschelkalow, Geheimschreiber (Bariton) – Pimen, Mönch (Baß) – Grigorij Otrepjew, Novize (später: der falsche Dimitrij; Tenor) – Marina Mnischek, Tochter des Wojewoden von Sendomir (Mezzosopran) – Rangoni, Jesuit (Baß) – Warlaam und Missail, entlaufene Mönche (Baß, Tenor) – Eine Schankwirtin (Mezzosopran) – Der Gottesnarr (Tenor) – Nikititsch, Vogt (Bass) – Mitjuch, ein Bauer (Bass) – Ein Leibbojar (Tenor) – Bojar Chruschtschow (Tenor) – Lawitzkij und Tschernikowskij, Jesuiten (Bässe)

Rußland und Polen, 1598–1605

Vorgeschichte
Gerüchte wollen wissen, daß der Zarewitsch Dimitrij, der Sohn Iwans »des Schrecklichen« 1591 von den Schergen des Boris Godunow ermordet wurde. Boris hat sich nach dem Mord ins »Jungfrauenkloster« zurückgezogen.

Prolog
Im Hof des Klosters zwingt Nikititsch mit Peitschenhieben eine Volksmenge auf die Knie und zwingt sie, den (zum Schein) widerstrebenden Boris anzuflehen, die Zarenkrone anzunehmen. Ein Pilgerzug zieht dem neuen Zaren, der dem Land Frieden bringen soll, mit der Ikone des heiligen Wladimir entgegen.

– Boris wird unter Glockengeläute gekrönt. Das Volk jubelt ihm zu. Doch die Szene ist von bösen Vorahnungen überschattet.

Erster Akt.
Im Tschudow-Kloster bringt der alte Mönch Pimen mühsam seine Chronik Rußlands zu Ende. Der Novize Grigorij wird von einem Alptraum geplagt: Er ersteigt den höchsten Turm Moskaus und stürzt jäh aus dieser Höhe herab. Von Pimen erfährt er, daß der ermordete Zarewitsch Dimitrij jetzt etwa im selben Alter wie er wäre. Er schmiedet den Plan, in die Rolle dieses Dimitrij zu schlüpfen
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Schenke an der litauischen Grenze
. Die Wirtin rupft einen Enterichs. Grigorij hat sich den entlaufenen Mönche Warlaam und Missail angeschlossen und erfährt von der Wirtin den besten Fluchtweg nach Litauen. Eine Polizeistreife erscheint auf der Suche nach Grigorij. Doch die Beamten sind des Lesens nicht kundig. Grigorij kann den Verdacht zunächst auf Warlaam lenken - doch der beginnt in höchster Bedrängnis den Suchbefehl mühsam selbst zu entziffern. Als sich herausstellt, daß Grigorij der Gesuchte ist, rettet er sich durch einen Sprung aus dem Fenster.

Zweiter Akt.
Im Kreml.
Boris ist seit sechs Jahren an der Macht. Seine Tochter Xenia klagt immer noch um den Zarewitsch, ihren toten Bräutigam. Ihr Bruder Fjodor und die Amme versuchen sie mit Liedern zu trösten.
Boris wird immer wieder von Schuldgefühlen übermannt. Der intrigante Fürst Schuiskij weist auf die Gefahr hin, die Rußland von Polen aus droht. Der Papst unterstütze überdies einen angeblich rechtmäßigen Thronprätendenten namens Dimitrij. Von Schuiskij, dem einzigen Mitwisser, verlangt der Zar die Bestätigung, daß der Thronfolger wirklich tot sei. Der Intrigant berichtet, die Leiche Dimitrijs würde wie durch ein Wunder nicht verwesen. Boris bricht zusammen und sieht in einer Wahnvorstellung zu den Schlägen eines Glockenspiels das ermordete Kind vor sich.

Dritter Akt.
Die Tochter des Wojewoden von Sendomir, Marina Mnischek, wird von ihren Dienerinnen umschmeichelt, während sie überlegt, wie sie an der Seite des »falschen Dimitrij« zur Zarin werden könnte. Der Jesuit Rangoni bestärkt sie in ihren ehrgeizigen Plänen und suggeriert ihr, sie sei ausersehen, Rußland zum rechten katholischen Glauben zu führen.
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Rangoni liegt auch Dimitrij in den Ohren, der sich nur für die schöne Marina interessiert. Der ist es ein Leichtes, Grigorij/Dimitrij während eines großen Festes um den Finger zu wickeln.

Vierter Akt.
Vor der Basilius-Kathedrale verbreitet sich im hungernden Volk die Nachricht von der Ankunft des Zarewitschs Dimitrij. Der Gottesnarr, dem spielende Kinder eine Kopeke abgeluchst haben, nähert sich dem Zaren, der aus der Kathedrale tritt: Er möge die Kinder strafen, sie »schlachten« wie er einst den Zarewitsch geschlachtet habe.
Boris läßt den Narren ungeschoren und bittet ihn, für ihn zu beten. Der Narr lehnt ab: Für den König Herodes dürfe man nicht beten.
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Im großen Saal des Kreml debattieren die versammelten Bojaren über den herannahenden Thronprätendenten. Schuiskij berichtet vom zerrütteten Geisteszustand des Boris, der verwirrt erscheint und seinen Platz auf dem Thron einnimmt. Schuiskij hat Pimen holen lassen, um von einer Blindenheilung am Grabe des ermordeten Zarewitsch zu erichten. Der Zar ruft nach seinem Sohn, überantwortet ihm die Macht und bricht tot zusammen.
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In einer Waldlichtung bei Kromy quält das aufständische Volk den Bojaren Chruschtschow. Warlaam und Missail werben mit Gesängen für den »rechtmäßigen Zaren« Dimitrij, der im Triumphzug erscheint und gerade noch verhindern kann, daß das Volk zwei Jesuiten lyncht. Die Menge folgt dem neuen Herrscher. Der Narr bleibt allein zurück und weint um das russische Volk:
Der Feind kommt, und Finsternis wird herabsinken auf das Vaterland.


Historie

Die Geschichte vom Usurpator Dimitrij ist tatsächlich passiert. Allerdings ist die von Puschkin rund um diesen Einzug des »falschen Demetrius« in Moskau erzählte Geschichte von der Mitschuld des Boris Godunow am Tod des Zarewitsch offenkundig frei erfunden, wenn sie auch auf russischer Legendenbildung beruht.

Dimitrij kam 1591 in Uglitsch zu Tode, vielleicht wurde er tatsächlich ermordet, vielleicht aber starb er an den Folgen von Verletzungen, die er während eines epileptischen Anfalls erlitten hatte.

Der Bojar Boris Godunow kam legal auf den Thron, nachdem Dimitrijs schwachsinniger Bruder, Fjodor I. gestorben war. Boris war Fjodors Schwager und mußte tatsächlich erleben, daß gegen Ende seiner siebenjährigen Regierungszeit ein Unbekannter, der sich »Demetrius« nannte, den Thron beanspruchte. Boris starb jedoch zwei Monate vor dessen Einzug in den Kreml. Seinen Sohn, Fjodor II. ließ der »falsche Demetrius« ermorden, wurde aber bereits ein Jahr durch den Fürsten Schuiskij gestürzt. Schuiskij wurde Zar. Der »falsche Demetrius« wurde ermordet.

Die Unschuld des Boris Godunow am Tod des Zarensohnes hatte eine Untersuchung bereits 1591 bewiesen. Der Bericht wurde jedoch erst 1819 publiziert.

Die Legende von der Ermordung des Zarewitsch hielt freilich auch der bedeutende Historiker Nikolaj Karamsin lebendig. Die entsprechenden Passagen in dessen Geschichte des russischen Reiches (1824) dienten Alexander Puschkin (1799–1837) als Vorlage für sein 1825 vollendetes, 1831 gedrucktes, aber erst 1866 von der zaristische Zensur freigegebenes Drama. Puschkins Boris Godunow kam 1870 zur Uraufführung. Bereits vier Jahre zuvor war Modest Mussorgsky auf das Drama aufmerksam gemacht worden. Der Historiker Wladimir Nikolsky darf für sich in Anspruch nehmen, an der Wiege einer der bedeutendsten Opern der Musikgeschichte zu stehen.

Die Urfassung (1868/69)


1868 begann Mussorgsky mit der Arbeit an dem zunächst auf sieben Szenen reduzierten sogenannten Ur-Boris, dessen Text er selbst verfat hatte:
1. Vor dem Nowodewitschij-Kloster
2. Krönung
3. Pimens Zelle
4. Schenke an der litauischen Grenze
5. Zarengemach im Kreml
6. Vor der Basilius-Kathedrale
7. Tod des Boris

Die Partitur dieser ersten Fassung der Oper war im Dezember 1869 vollendet, wurde vom kaiserlichen Theater in St. Petersburg aber 1871 abgelehnt.

Der »Polen-Akt

In der Zwischenzeit hatte der Komponist beschlossen, sein Werk zu überarbeiten. Freunde hatten ihn darauf aufmerksam gemacht, daß eine »richtige« Oper auch eine führende Frauenrolle benötige. Daher fügte Mussorgsky 1871 die beiden in Pole spielenden Bilder - und damit die Figuren der Marina Mnischek und des intriganten Jesuiten Rangoni - hinzu.

Das Revolutions-Bild

Gleichzeitig erweiterte er den Schluß der Oper um die Revolutionsszene im Wald von Kromy, in die er den Auftritt des Gottesnarren integrierte, um die Szene vor der Basilius-Kathedrale streichen zu können.

Die dramaturgisch so beeindruckende Begegnung des Narren mit dem verstörten Zaren wurde für diese Kürzung geopfert. Die Gewichtung des ausdrücklich als »Musikalisches Volksdrama« bezeichneten Werks liegt durch diese Neufassung des letzten Akts nun stärker auf dem Chor, während im Ur-Boris das Schicksal des Zaren im Fokus steht.

Die Partitur der Neufassung lag im Juni 1872 vor. Im Februar 1873 kam es zur Uraufführung der beiden Polen-Bilder und der Szene in der Schenke am Petersburger Mariinskij-Theater. Der gesamte, nun sogenannten »Original-Boris«, fand als Benefizvorstellung für die Interpretin der Marina, Julia Platonowa, 1874 statt.

Rimskij-Korsakows Bearbeitung

Ihren Siegeszug konnte die Oper allerdings erst nach Mussorgskys Tod antreten - in einer stark veränderten und völlig neu instrumentierten Version von Nikolai Rimskij-Korsakow antreten. Rimskij strich 1888 das Revolutionsbild und korrigiert vieles von dem, was er bei Mussorgsky als »ungeschickte Stimmführung« und »schroffe Harmonien und Modulationen« bezeichnete.
Eine revidierte Fassung dieser Rimskij-Korsakow-Version des Boris Godunow erlebte 1908 mit Fjodor Schaljapin in der Titelpartie heraus. Die Pariser Aufführung markierte den Durchbruch: Boris Godunow war hinfort aus den Spielplänen nicht mehr wegzudenken. Allerdings besann man sich auch in Mussorgskys Heimat erst später seiner eigenen beiden Versionen des Werks. Der Komponist und Musikforscher Pawel Lamm rekonstruierte den Urtext sowohl des »Ur-Boris« als auch des längeren »Original-Boris«. Seither stellt sich bei jeder Neueinstudierung der Oper die Frage, welche Fassung - oder welche Mixtur aus den verschiedenen Versionen - gewählt werden soll. Im Moskauer Bolschoi-Theater spielte man viele Jahre lang eine möglichst vollständige Fassung aller von Mussorgsky entworfenen Szenen in der Orchestrierung von Rimskij-Korsakow. Durch die Wiedereinführung der Szene vor der Basilius-Kathedrale - bei entsprechender Verkürzung des Auftritts des Gottesnarren im Revolutionsbild - wuchs die dramaturgische Struktur des Werks auf zehn Bilder an.

Eine in den Jahren 1939/40 von Dmitrij Schostakowitsch erarbeitete neue Orchestrierung der Partitur, die sich mehr an Mussorgskys Original-Orchestersatz orientierte, konnte sich nach ihrer Uraufführung im damaligen Leningrad (1959) nicht durchsetzen.



↑DA CAPO