Entführung aus dem Serail
Ein Werk der Befreiung.

»Tritt im Arsch«

Als Bediensteter des Salzburger Fürsterzbischofs wird Mozart nach Wien zitiert, wo sein Dienstherr gerade auf Staatsbesuch weilt und seinen Hofstaat um sich haben will; auch um mit den Qualitäten seiner Musiker zu renommieren. Doch Mozart will endgültig fliehen, provoziert den Hinauswurf, den der Oberküchenmeister des Fürsten, Graf Arco, mit einem legendären »Tritt im Arsch« (Mozart) besiegelt.
Rückholversuche des Vaters fruchten nichts mehr.
Wolfgang Amadeus Mozart ist ab sofort ein freier Mann.

»Der beste Ort von der Welt«

In Wien – »für mein Metier der beste Ort von der Welt« – will er, ganz auf sich und seine Kunst gestellt, reüssieren. Mit Konzerten, in denen er seine Werke präsentiert, gelingt ihm das auch glänzend.
Während ihn die mittlerweile in Wien logierende Familie Weber erneut umgarnt – diesmal endet die Vereinnahmung mit der Unterzeichnung eines Ehekontrakts: Statt Aloisia, die ja mittlerweile mit dem Burgschauspieler Joseph Lange verheiratet ist, wählt Mozart deren Schwester Constanze und heiratet sie – dem Zorn des Vaters zum Trotz, dessen Einwilligung zur Verehelichung erst nach der Trauung eintrifft.

Deutsches Nationalsingspiel

Liebeserklärungen an eine andere Constanze führen ihn zur selben Zeit zur Oper zurück. Im August 1781 beginnt Mozart sein ehrgeiziges Unterfangen, dem Vorhaben des Kaisers zur Etablierung eines »Deutschen Nationalsingspiels« ein geeignetes Werk zu schaffen.
An der Gestaltung des Textbuchs nimmt er besonders regen Anteil. Es darf angenommen werden, daß sein dramaturgischer Instinkt dafür verantwortlich ist, daß im Finale eine brisante Zuspitzung der Handlung eintritt.

Mozart dramaturgisches Geschick

In Bretzners Vorlage entpuppt sich Belmonte als verlorener Sohn des Bassa Selim. Mozart (beziehungsweise sein Librettist) machen aus ihm den Sohn des ärgsten Feindes des Bassa, der so zum großen verzeihenden Herrscher wird, wie er uns in Mozarts Opern immer wieder entgegentritt.

Bassa Selim ist damit ein Verwandter jener edlen orientalischen Herrscher, die in Zeiten der Aufklärung gern als Bühnenfiguren gezeigt wurden – am prominentesten wohl von Lessing im zwei Jahre vor der Entführung gedichteten Drama Nathan der Weise. Mozart kennt jedenfalls Glucks Pilgrime von Mekka, die 1764 herausgekommen sind, Haydns Incontro improvviso von 1775, aus der Literatur vielleicht auch Voltaires Zaire. Das damals populäre türkische Kolorit der Musik – denken wir an Mozarts eigene Stilzitate im A-Dur-Violinkonzert, in der Klaviersonate mit dem Türkischen Marsch, aber auch an die Janitscharenmusik in Joseph Haydns späterer Militärsymphonie (Hob. I/100) – entsprang, psychologisch betrachtet, zwar eher dem unbewußten Versuch, die Angst vor der damals höchst aktuellen Bedrohung durch die Türkenkriege zu bannen. Doch hebt sich vor dieser Klangfolie die aufklärerische Tendenz der Dramendichtung umso effektvoller ab.

Ein neuer Geist

Mozarts musikalische Gestaltungskraft kann sich in der neuerfundenen Gattung des deutschen Singspiels endlich frei von jeglichem formalen Zwang entfalten. Die Nummern werden nicht durch Rezitative, sondern durch gesprochenen Dialog verbunden. Die Länge der Gesangsnummern, ihre Ausdruckssprache sind höchst subjektiv nach den dramaturgischen Vorgaben auf die jeweilige Situation zugeschnitten.

Uraufführungs-Virtuosen

Und sie berücksichtigen virtuos die Möglichkeiten der Uraufführungsbesetzung mit Caterina Cavalieri (Konstanze), Johann Valentin Adamberger (Belmonte) und Johann Ignaz Fischer (Osmin). Es waren glänzende Könner, deren Repertoire Mozart auskostet; womit er spätere Interpreten vor zum Teil halsbrecherische vokale Aufgaben stellt. Die geniale Mischung aus liedhaftem Stil – man wird das später als den veritablen Singspielton bezeichnen – und präziser musikalischer Charakterisierung führt von schlichten Arietten zu konzertanten Bravourarien. Konstanze, die mit ihrer Auftrittsarie technisch vielleicht die schwierigste Aufgabe zu bewältigen hat, wird im zweiten Akt zu einem artistischen »Doppelschlag« genötigt, der von der lyrisch zurückgenommenen g-Moll-Welt der Traurigkeit zum konzertanten Virtuosenakt der Marternarie führt, in der Mozart die barocke Tradition der Arie mit konzertierenden Instrumenten neu definiert.

Raffinierte Kunstgriffe allerorten: Die Ouvertüre endet auf einem Halbschluß, führt sogleich in die Auftrittsarie des Belmonte, die wiederum auf die nach Dur gewendete Melodie des Ouvertüren-Mittelteils gesungen wird. Im darauffolgenden Lied des Osmin erprobt Mozart nicht nur von Strophe zu Strophe seine subtile Kunst der Textausdeutung (Man höre, wie die »losen Dinger«, wie der Aufseher die Haremsdamen nennt, »nach Schmetterlingen haschen« – hinzutretende Oboen-Töne malen die Bewegung charakteristisch; demnächst werden die Holzbläser mit frechen Trillern über die Worte »Ich hab auch Verstand« kichern). Osmin kann seine schlichte Weise nicht einfach zu Ende singen, sondern muß, weil Belmonte ihn immer wieder mit Fragen unterbricht, schließlich in ein Duett einstimmen, das, von einem Rezitativ unterbrochen, in eine rasante Stretta mündet. Unvorhergesehene Wendungen der Handlung verwandeln dieserart auch die musikalischen Formen. Aus dem Andante ist unversehens ein erregtes Presto geworden.

Auch erstaunliche harmonische Abenteuer bietet die Partitur. Sie müssen zeitgenössische Hörer in ihrem Wagemut geradezu enthusiasmiert haben.

Mozarts Eigendefinition

Mozart selbst beschreibt, warum er etwa in der Osmin-Arie plötzlich entfernte Tonarten aufsucht:
Da sein Zorn immer wächst, so muß – da man glaubt die aria sei schon zu Ende – das allegro aßai ganz in einem andern zeitmaaß; und in einem andern Ton – eben den besten Effect machen: denn ein Mensch der sich in einem so heftigen Zorn befindet, überschreitet alle ordnung, Maas und Ziel, er kennt sich nicht – so muß sich auch die Musick nicht mehr kennen – weil aber die leidenschaften, heftig oder nicht, niemals blos zum Eckel ausgedrücket seyn müssen, und die Musick, auch in der schauervollsten lage, das Ohr niemals beleidigen, sondern doch dabey vergnügen muß, folglich allzeit Musick bleiben Muß, so habe ich keinen fremden ton zum f (zum ton der aria) sondern einen befreundeten dazu, aber nicht den nächsten, D minor, sondern den weitern, A minor, gewählt.
Das Ohr soll den Geist beflügeln, es soll gereizt, doch nicht beleidigt werden. Ein kompositorisches Credo von bestechender Prägnanz.
Den Zorn des Osmin wendet Mozart im Finale noch einmal »in das Komische«, wie er es nennt, indem er ihn zu simpelsten Harmonien und stampfender »türkischer Musik« in den einträchtigen Rundgesang hereinbrechen läßt: Ein letzter Verstoß gegen die formale Geschlossenheit, der dramaturgische Funktion erfüllt: Osmin gehört nicht zu denen, die aus des Bassas weisen Ratschlüssen klug werden.

Goethes Lob

Keine andere Oper erringt zu Mozarts Lebzeiten solche Erfolge wie die „Entführung“, die nach Wien auch in Prag (1782), Berlin (1788) und in Paris (1798) gegeben wird.
Neulich ward die Entführung aus dem Serail, componirt von Mozart gegeben
schreibt Johann Wolfgang von Goethe, ein früher Zeuge des Triumphzugs der Oper durch Deutschland, 1785 an Philipp Christoph Kayser,
jedermann erklärte sich für die Musick. Das erstemal spielten sie es mittelmäßig, der Text selbst ist sehr schlecht und auch die Musick wollte mir nicht ein. Das zweytemal wurde es schlecht gespielt und ich ging gar heraus. Doch das Stück erhielt sich und iedermann lobte die Musick. Als sie es zum fünftenmal gaben, ging ich wieder hinein. Sie agirten und sangen besser als iemals, ich abstrahirte vom Text und begreiffe nun die Differenz meines Urtheils und des Eindrucks aufs Publikum und weis woran ich bin.


↑DA CAPO