Giulio Cesare

Von den 35 Opern, die Georg Friedrich Händel für London zwischen 1711 und 1741 komponiert hat, genoß Giulio Cesare immer schon einen Sonderstatus. Das Werk geriet nie ganz in Vergessenheit. Nach Händels Tod beschrieb Charles Burney Cesare als »eine Oper voller Schönheiten verschiedener Art«. Schon anläßlich der Uraufführungs-Serie kam es im Februar und März 1724 zu 12 Reprisen. 1725, 1730 und 1732 wurde sie wieder aufgenommen. Während der letzten Aufführungsserie kam es zu einem Unfall, der Schlagzeilen machte. Der Kastrat Senesino, ein Weltstar jener Ära, verlor seine Stimme - vor Schreck, weil neben ihm während einer Arie ein Metallstück aus dem Schnürboden herab auf die Bühne gefallen war.

Das Libretto zu Giulio Cesare basiert auf einem Text von Bussani, der erstmals 1676 von Sartorio in Venedig in Musik gesetzt worden war. Vor allem die Charaktereichnung Cleopatras und ihrer ehrgeizigen Verführerungskünste haben die beiden Vertonungen gemeinsam. In Händels Oper verfolgt Cäsar seinen römischen Rivalen Pompeus bis nach Ägypten, wo Cleopatra und ihr eifersüchtiger Bruder Tolomeo um die Herrschaft ringen.

Beide versuchen, Cäsar für sich zu gewinnen. Tolomeo sendet den Kopf des Pompeus, um Cäsar zu beeindrucken, Cleopatra läßt ihre Reize spielen.

Auch Cornelia,
die Witwe des Pompeus, ist nicht frei von verführerischem Charme. Sie läßt ihn in drei bemerkenswert psychologisch charakterisierten Szenen spielen: Sie trauert nicht nur um ihren ermordeten Gatten Priva son d'ogni conforto, sondern bringt auch ihren Sohn Sextus dazu, sich zum Rächer seines Vaters zu machen. Und auch Cäsar kann sie dank innerer Größe für sich einnehmen und vom Barbarentum des Tolomeo überzeugen Empio, diro, tu sei.

Als großer Psychologe zeigt sich Händel auch in der Entwicklungslinie der großen Arien des Titelhelden. Er präsentiert sich zunächst reichlich arrogant (Presti omail), reagiert aber auf den Mord an Pompeus mit einer düsteren Betrachtung der eigenen Sterblichkeit (Alma del gran Pompeo). Die Lust, Tolomeos Drohungen mit Raffinement zu begegnen (Va tacito), steigert sich in der direkten Auseinandersetzung zu höchster Tapferkeit (Allampo del'armi). Andererseits zeigt er sich, fasziniert von der rätselhaften Lydia, als höchst sensitiver Zeitgenosse (Se in fiorito).

Auch Cleopatra wandelt sich von der berechnenden Politikerin, die ihre weiblichen Reize einzusetzen weiß, in eine Liebende (V'adoro, pupille). Und wenn sie meint, das Spiel verloren zu haben, stimmt sie ein ergreifendes Klagelied an (Piangero).


Aufnahmen

Da die Musikgeschichte nie ganz auf den Julius Cäsar vergessen hat gibt es bereits einen Livemitschnitt aus den Fünfzigerjahren, der hören läßt, was einige der größten Opernstars jener Zeit aus der Vorlage machten - von einer »Originalklang-Bewegung« war damals noch nichts zu ahnen. Immerhin: Neben Renata Tebaldis Cleopatra läßt sich auch der mächtige Baß von Cesare Siepi hören!

Vertrauter, heute würde man vielleicht dennoch sagen: historisch noch völlig »uninformiert« klingt die Münchner Aufnahme unter Ferdinand Leitner, durchaus mutig in den Tempi, oft kräftig anpackend in den dramatischen Aufwallungen - und von einer stimmlich singulären Besetzung gesungen, deren hinreißende Phrasen oft vermutlich sogar Hardliner des Originalklangs verstummen lassen würde, sollten sie sich herablassen, diese Aufnahme überhaupt anzuhören: Für Melomanen sind die Arien einer Lucia Popp (damals 25 Jahre jung!) als Cleopatra, einer Christa Ludwig (Cornelia), von Walter Berry in der Titelrplle und Fritz Wunderlich als Sextus unverzichtbar. Kuriosum für Kenner: Händel hat den Sextus in der Wiederaufnahme der Uraufführungsproduktion 1725 für einen Tenor umgeschrieben - Wunderlich singt jedoch eine transponierte Version der ursprünglichen Mezzo-Fassung von 1924! Soviel zu den editorischen Problemen, die man in den Sechzigerjahren noch mit Barockopern hatte; und wären es die berühmtesten gewesen  . . .

Ein Kuriosum ist Nikolaus Harnoncourts ganz den Originalklang-Erkenntnissen vertrauende Aufnahme vom Ende der Achtzigerjahre, die einen Querschnitt durch die Oper bietet und die schönsten Arien und packendsten Szenen zu einer einstündigen Kurz-Version vereint. Lucia Popp ist in diesem Pasticcio nur in der Schluß-Nummer die Cleopatra - im übrigen singt Roberta Alexander an der Seite von Paul Esswood, die Cornelia ist Marjana Lipovsek, Sextus Ann Murray. (Teldec/Warner)

Harnoncourts Aufnahme entstand zu einem Zeitpunkt, als Musikfreunde, die sich für Händel-Opern interessierten, gerade mit der ersten großen Studioproduktion der Deutschen Grammophon Gesellschaft vertraut geworden waren, die von Karl Richter betreut wurde, also in der Übergangsphase von Aufführungstradition und genauerer Hinterfragung der Quellen entstanden war: Noch ist mit Dietrich Fischer-Dieskau ein Baßbariton der Titelheld, umgeben von einem Edel-Ensemble mit Tatjana Troyanos, Julia Hamari, Peter Schreier und Franz Crass.

Die neue Zeit der Besinnung auf orignale Quellen und Klangvorstellungen hatte in Charles Mackerras einen entschiedenen Vorreiter. Er wußte auch um die Qualitäten der traditionellen Opern-Praxis und erweist sich daher nirgendwo als belehrender Purist, sondern immer als Dramatiker. Entsprechend zupackend (und durchaus für die Aufführungsserie in der Enlish Nationa Opera ein wenig gekürzt und ins Englische übersetzt) klingt auch seine Einspielung des Giulio Cesare, in der Della Jones den Sextus hinreißend stilsicher singt. Die Titelpartie läßt eine der großen Sängerinnen des XX. Jahrhunderts hören: Janet Baker, deren Gesang in allen Lebens- und Leidenslagen von höchster Noblesse bestimmt ist. (Chandos)

Als Videoproduktion empfehlenswert die Aufnahme der Produktion von Laurent Pelly für die Pariser Oper von 2011/12 mit Natalie Dessay als Cleopatra und dem fabelhaften Countertenor Lawrence Zazzo in der Titelpartie. Die in jener Ära übliche Komposition aus modischer Regie und retrospektiver Klangkultur (Emmanuelle Haim dirigiert Le Concert dAstrée) - aber auf hohem künstlerischem Niveau. (Virgin)

↑DA CAPO

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