Roméo et Juliette

Premiere Wiener Staatsoper, Dezember 2001

Ein Lichtermeer für → Charles Gounods »Romeo et Juliette« entfesselte Charles Woodroffe in der Staatsoper. Man könnte darin diese Shakespeareoper wirklich spielen.

Das sind die heiklen Dinge des Opernrepertoires: Ein Werk wie Gounods Romeo und Julia ist zwar ausgezeichnet, allein, es braucht musikalische wie szenische Feinarbeit, um seine Qualitäten fühlbar werden zu lassen. Andernfalls verläßt das Publikum das Haus mit dem Eindruck, hier hätte der eine oder andere gute Sänger seine Kräfte an untaugliches Material verschwendet. So ähnlich mochte es manchem Besucher am Samstagabend in der Wiener Staatsoper gegangen sein. Gounod dafür verantwortlich zu machen, hieße vorschnell urteilen. Die Chance, einem feinsinnigen musikalischen Balanceakt zwischen allen Stilen beizuwohnen, die die große französische Musiktheatertradition aufzuweisen hat, wäre enorm. Schon die ersten Takte der Partitur verraten des Komponisten Sensibilität in orchestralen Belangen. Als gelehriger Schüler eines Meyerbeer versteht sich Gounod auf das Austarieren origineller, behutsam changierender Farbwerte, die sogleich Stimmungen evozieren, dramatische Situationen heraufbeschwören.

Fünf Beleuchtungstürme

Der bemerkenswerte Versuch der Staatsoper, von fünf fahrbaren Beleuchtungstürmen aus immer neue weiße oder bunte Lichtkaskaden über die Darsteller zu werfen, könnte den musikalischen Farbenzauber zum Gesamtkunstwerk verdichten.

Allein, da blieben Charles Woodroffes im wahrsten Sinne des Wortes blendende Einfälle isoliert. Denn was Marcello Viotti den Musikern entlockte, glich bestenfalls einer Schwarzweißkopie von Gounods Partiturentwürfen. Was an diesem Abend an mangelhaft bis gar nicht abschattierten Klängen namentlich aus der Holzbläserriege zu hören war, was an nicht durchmodellierter Phrasierung in allen Orchesterregistern, das ginge in einer Repertoireaufführung vielleicht an. Die Premiere eines so heiklen Werkes trägt es nicht.

Zumal auch die Sängerbesetzung nicht dazu angetan war, das Niveau in festliche Ausnahmeregionen zu heben. Fein, daß die Staatsoper sichere Sänger wie Alfred Sramek oder Walter Fink in ihren Reihen hat, die in schwierigen Cantabile-Partien wacker ihren Mann stellen.

Fein auch, daß die beliebte Angelika Kirchschlager so viel Charme und Raffinement hat, um die kurze, aber effektvolle Szene des Stephano zu einem ihrer allseits bewunderten Soloauftritt zu nutzen. Ob man an einem Premierenabend vielleicht nicht doch bemerken sollte, daß eine solche Rolle bei peniblen Proben in allen Passagen ausgefeilt wurde und nicht die eine oder andere Koloratur mehr elegant auszutricksen als präzise zu artikulieren ist?

Die beiden Hauptakteure führen diese Linie fort. Stefania Bonfadelli ist eine bildhübsche Julia, die einen Abend lang im Neglige ihre Reize präsentieren darf. Stimmlich bleibt sie problematisch, serviert sowohl Auftrittsszene - wie ein Popstar in engen Jeans mit Mikrophon in der Hand - als auch die berühmte Walzerarie mehr andeutungsweise als punktgenau, schlampig phrasierend mit einer Großzügigkeit, die zu Annäherungen an Gounods Vorschriften führt, nicht zu deren Erfüllung oder gar Überhöhung in die Sphären echten musikalischen Ausdrucks.

Auch Neil Shicoff wirkt, pardon, fehlbesetzt; und zwar nicht, weil er gegen das reizende Julchen doch schon recht großväterlich wirkt, sondern weil sich seine Stimme von jener Leichtigkeit und Eloquenz, die für Gounods elegante Linienführung unabdingbar wäre, längst in Richtung purer Dramatik entfernt hat.

Shicoffs großes Finale

Selbstverständlich kann Shicoff seine Arie servieren, selbstverständlich gelingt es ihm, was der Aufführung beinahe einen wirklich großen Moment sichert, im Finale Phrase für Phrase kraftvolle und berührende Akzente zu setzen, die dann auch seine Partnerin zu natürlicher Emphase mitreißen. Da nähert man sich für Minuten packendem Musiktheater, weil die Aussage alle technischen Fragen außer Kraft setzt.

Jedoch bringt diesmal nur einer der Protagonisten Stilempfinden und Expression wirklich auf einen Nenner: Debütant Adrian Eröd liefert mit seinem Lied von der Königin Mab, der »Fee der Träume«, ein Musterbeispiel für die Übereinstimmung vokaler Elegance und Aussage. Gounod nimmt hier für sein lyrisches Drama Anleihen beim eloquenten Stil der Opera comique; Eröd gehorcht dessen Anforderungen und entpuppt sich damit als Solitär einer im übrigen allzu uneinheitlichen Besetzung.

Jürgen Flimm erklärt dieses Kunterbunt zum Prinzip, läßt die Lichtorgel seines Kompagnons ihre Wirkungen tun und führt im Verein mit Bewegungsregisseur Renato Zanella die Darsteller entweder gar nicht (wie mehrheitlich den ohne reflektierende Bühnenrückwand doch reichlich zaghaft tönenden Chor) oder in mätzchenhafter Betulichkeit, die nirgendwo schlüssige Zugkraft gewinnt. Julia tritt als Rocksternchen auf, swingt, angestachelt von imaginärem Discosound, wohl ein wenig eingeraucht, über die Szene, schmusend Freier um Freier verstoßend. Warum sich dieses gelangweilte Wesen plötzlich angesichts eines Seelsorgers ernstlich Sorgen um Gottes Segen macht, bleibt so ungelöst wie jedes andere dieserart aufgeworfene Handlungsrätsel.

So verschwistern sich an diesem Abend Mangel an szenischer Charakterisierungskunst und musikalische Uniformität. Was bleibt? Ein Meer von Scheinwerferkegeln, in das irgendwann vielleicht einmal ein Abendspielleiter eine gute Besetzung so einweisen kann, daß ohne weiteres darin die Tragödie von Romeo und sich ereignet. Falls ein Dirigent, der sich darauf versteht, die Zeit findet, den musikalischen Boden dafür aufzubereiten.

↑ DA CAPO