Wege durchs Labyrinth des Mythos

Theater an der Wien. 2010

Glucks Reformoper "Iphigenie auf Tauris" als Traumspiel.

Über die Bedeutung Christoph Willibald Glucks herrscht in der Fachwelt Einigkeit. Doch Aufführungen der legendären "Reformopern" bleiben rar. Immerhin: Das Theater an der Wien stellt nun "Iphigenie auf Tauris" zur Diskussion, jenes Werk, das Gluck den letzten Triumph bescherte - und das beinah parallel zu Mozarts "Idomeneo" die Gattung der französischen "Tragedie lyrique" neu zu definieren versuchte.

Wer viel über Glucks Modernisierungen liest, wird angesichts der theatralischen und klanglichen Realität vielleicht enttäuscht sein, in dem Werk viele Restbestände spätbarocker Tradition zu entdecken. Doch sind es, glauben wir Adorno, oft gerade die "Residuen des Vergangenen", die uns in die Zukunft zu katapultieren vermögen.

Was die verdienstvolle Neuproduktion beweist: Glucks Musik kann uns anrühren, kann wie die größten Werke des gängigen Repertoires die seelischen Befindlichkeiten der handelnden Personen vermitteln. Wenn die Interpreten imstande sind, mit stimmlichen Mitteln die Botschaften der Musik unverschlüsselt zu transportieren.

Ein Großteil der Wiener Besetzung darf als Glücksfall gewertet werden.

Veronique Gens in der Titelpartie lässt ihre Stimme wohllautend und stets mit spürbarer innerer Beteiligung strömen. Da schwingt im entscheidenden Moment auch Bitternis über das Los der Priesterin mit, die als Handlangerin der skythischen Machthaber griechische Landsleute opfern soll. Aber auch die durchaus ans Erotische streifende Zuneigung zu jenem Mann, der sich zuletzt als Bruder Orest enttarnen wird, vermitteln die Sangeskünste anrührend: Stephane Degout ist der Gens ein ebenbürtiger Partner.

Die Göttin darf nicht singen

Er steht auch im freundschaftlichen Duett mit dem Gefährten seinen Mann: Rainer Trost verleiht dem Pylades durchwegs verletzliche, sehr menschliche Züge. Seine Arien werden dank sensibler Modulationsfähigkeit des Tenors zu Höhepunkten introvertierter Charakterisierungskunst.

Sehr gut ergänzen die Darsteller der kleineren Rollen, allen voran der düsteren Blicks durchs Betonlabyrinth der inneren und äußeren Verwicklungen (Bühne: Vasilis Triantafillopoulos) wandelnde Minister von Andreas Jankowitsch.

Blass bleibt nur der König Thoas von Andrew Schroeder, der sich in Torsten Fischers handwerklich sauberer, auch Terrorbilder ästhetisierender Regie zuletzt ins Nirvana zurückziehen darf. In Glucks Original wird er von den wütenden Griechen-Horden des Pylades getötet. Solche Brutalitäten nimmt Fischer ins Oratorische zurück.

Er verzichtet auch auf die Dea ex machina: Artemis dräut nur als Fresko im Tempelbild. Ihre Schlussworte legt man Iphigenie in den Mund. Das macht die Orientierung im mythologischen Wirrwarr schwierig für ein Publikum, das die Oper vielleicht das erste Mal erlebt. Wirkt es doch, als erwachte man plötzlich aus einem bösen Traum, als hätten alle zuvor Lärm um nichts gemacht.

Der exzellente Schönberg-Chor und die Wiener Symphoniker vor allem, denen Harry Bicket die zum Teil sehr stürmischen Orchesterwogen entlockt. Die gebotene Feinfühligkeit im Harmonisieren von Sing- und Instrumentalstimmen geht im durchwegs animiert-kraftvollen Spiel des Öfteren verloren: Da kann ein sehr schön geblasenes Oboen-Solo völlig beziehungslos neben der hochexpressiven Gesangslinie einherlaufen. Doch überwiegt an diesem Abend die spürbare Lust aller Beteiligten, Glucks Oper wirklich Leben einzuhauchen. Der Premierenapplaus lehrte: Übung geglückt.




↑DA CAPO