Iphigénie en Aulide

Christoph Willibald Gluck

Tragédie-opéra
Text: Marie-François-Louis Gand-Leblanc, Bailli du Roullet nach Racine
Uraufführung: 1774 Paris


PERSONEN DER HANDLUNGAgamemnon, König von Mykene und Oberbefehlshaber der Griechen (Baß) – Klytämnestra, seine Frau (Mezzosopran) – Iphigenie, beider Tochter (Sopran) – Achilles, König in Thessalien (Haute-contre) – Patroklus, sein Freund (Baß) – Kalchas, Oberpriester der Artemis (Baß) – Arkas, Hauptmann (Baß) – drei Griechinnen (Soprane) – ein Grieche (Tenor)


1. Akt

Diana verwehrt der Flotte der Griechen, die gegen Troja ziehen wollen, den günstigen Wind. Nur die Opferung von Agamemnons Tochter Iphigenie könnte die Göttin umstimmen.

Agamemnon ist verzweifelt, doch der Oberpriester versichert, die Göttin werde bald durch ein Opfer versöhnt.

Agamemnon will seine Tochter im heimatlichen Mykene zurückhalten. Sie sollte im Heerlager mit Achilles verheiratet werden. Agamemnon läßt nun durch Arkas das Gerücht verbreiten, der Bräutigam sei untreu geworden.

Doch der Bote kam zu spät. Iphigenie, begleitet von ihrer Mutter Klytämnestra, zieht ins Lager ein. Klytämnestra rast vor Zorn über Achills angebliche Untreue und will die Tochter zur Heimfahrt drängen. Doch Achill gelingt es, die klagende Iphigenie von seiner Unschuld zu überzeugen.

2. Akt

Während der Hochzeitsvorbereitungen wird der neuen Königin Iphigenie gehuldigt. Doch Arkas verkündet, der Vater gedenke seine Tochter der Göttin Diana zu opfern. Klytämnestra bestürmt Achill, sich ihrem Mann, dem »Barbaren« und »Tyrannen« entgegenzustellen. Achill verspricht auf Bitten Iphigenies aber, das Leben Agamemnons zu schonen.

Nach einer scharfen Kontroverse zwischen den beiden Männern über die Befehlsgewalt plagen Agamemnon Gewissensqualen. Er befiehlt Arkas, Iphigenie heimlich fortzubringen und bietet sich der Göttin selbst als Opfer an.

3. Akt

Die Griechen wollen in den Krieg ziehen und fordern die geschworene Opferung. Iphigenie ist bereit zu sterben und nimmt Abschied von Achill, der verzweifelt versucht, Kalchas am Vollzug des Opfers zu hindern.

Klytämnestra wünscht Jupiters Zorn auf das griechische Heer herab.

Als Iphigenie vor dem Opferaltar kniet, erscheint Achill und reißt die junge Frau an sich. Ein Gemetzel zwischen Griechen und Thessaliern beginnt - unterbrochen von der mächtigen Prophetie des Kalchas: Diana sei besänftigt dank Iphigenies Reinheit, Klytämnestras Tränen und den Heldenmut Achills. Das Feuer auf dem Altar erlischt, die ersehnten Winde kommen auf.


Glucks »Opernreform«

War es in Wien Calzabigi gewesen, so kam in Paris du Roullet der Rang des Initiators jener Opern-Reform zu, die man gemeinhin mit dem Namen des Komponisten Gluck verbindet. Der Plan, gemeinsam ein Werk für die Pariser Académie Royale de Musique zu verfassen, wurde bei einem Aufenthalt des Librettisten in Wien gefaßt. Du Roullet war es auch, der eine Privataufführung bei Antoine d'Auvergne, dem Direktor der Opéra, zuwege brachte. Er wußte, daß er auf das Wohlwollen von Königin Marie Antoinettes rechnen durfte.

Du Roullets Textbuch basiert auf Jean Racines Fünfakter Iphigénie (1674). Das Opern-Personal wurde um die Rolle des Kalchas erweitert. Eine wichtige Quelle für das Textbuch war der Entwurf einer »idealen« Operndichtung, den der Literatur- und Theater-Theoretiker Francesco Algarotti 1755 unter dem Titel Iphigénie en Aulide publiziert hatte. Auf dieser Grundlage vermochte Gluck, bisher als Meister der italienischen Opera seria berühmt, die eigenständige Gattung der von Jean-Baptiste Lully bis Jean-Philippe Rameau entwickelten » Tragédie lyrique« neu zu beleben.

Gluck vermeidet die Prachtentfaltung der letzten Partituren Reameaus, der während seines Paris-Aufenthalts im hohen Alter von 81 starb. In seiner Iphigénie herrscht Knappheit, Klarheit, jene schon im Wiener Orpheus kultivierte Konzentration auf das Wesentliche der Handlung. Die Buntheit der kurzen Einzelszenen Rameaus bündeln Librettist und Komponist zu größeren Tableaux, wobei die konventionelle Da-Capo-Arien der Opera seria durchaus Verwendung finden, wo sich das dramaturgisch logisch ergibt.

Musikalische Psychologie

Angeschmiegt an die Handlung und den Textfluß, baut Gluck aber auch weite Strecken aus kühnen Mixturen rezitativischer und arioser Passagen, die durchwegs vom ganzen Orchester begleitet werden.

So reagiert die Musik - etwa in Kalchas` D'une sainte terreur, oder Agamemnons Tu décides son sort (im Finale II) - auch auf jähe Stimmungsschwankungen und Volten der Handlung. Sie kann auch die seelische Situation der handelnden Personen in ihrer Vielschichtigkeit erfassen.

Mit Agamemnons Eingangs-Monolog Diane impitoyable, Klytämnestras Par un père cruel im Mittelakt und ihr Gebet Jupiter, lance la foudre vor dem Finale sind den Interpreten starke Demonstrationsobjekte vokaler Gestaltungskunst und darstellerischer Präsenz geschenkt.

Iphigenies Charakterbild

Die Persönlichkeit der Iphigénie hingegen charakterisiert Gluck durch eine quer durch das Werk gezogene Reihe klein dimensionierter Arien, Ariosi und Accompagnati, die den Wandel vom unschuldigen Mädchen zur reifen, starken Frau in einer Art dramaturgischem Crescendo nachvollziehen.

Wagners Bearbeitung

Für wie richtungsweisend die Romantik dieses Werk hielt, erweist sich aus der Tatsache, daß Richard Wagner die Partitur für eine eigene Einstudierung kräftig bearbeitete und mit einer Ouvertüre versah. Noch Richard Strauss betrachtete diese aufgepolsterte Variante als repertoiretauglich und listet sie in seinem »Opern-Testament« für Karl Böhm ausdrücklich als wichtiges Versatzstück eines guten Opern-Spielplans.






Es hat bis 1987 gedauert, daß Glucks meisterliche Partitur in den Blickwinkel der Originalklangbewegung geriet. John-Eliot Gardiner kommt das Verdienst zu, zumindest den Versuch unternommen zu haben, die ursprünglichen klanglichen Verhältnisse wieder herzustellen. Auf seiner Gesamtaufnahme finden zumindest die Klytämnestra Anne Sophie von Otters und der Agamemnon José van Dams einen überzeugenden Tonfall zwischen schlanker, eloquenter Phrasierungskunst und expressiver Färbung.



Alle älteren Einspielungen klingen auch dort, wo sie auf Glucks originale Orchestrierung zurückgreifen, nach einem Nachhall der musikalischen Romantik. Allerdings erzielen einige der Interpreten rundum überzeugende musiktheatralische Ergebnisse: Ausdrucksvoller gesungen als durch Christa Ludwig, Walter Berry, Inge Borkh, James King und Otto Edelmann - bei den Salzburger Festspielen unter Karl Böhms kraftvoller Leitung - wurde das Werk wahrscheinlich nie.



Französisch gesungen wurde in der Aufnahmegeschichte erst 1963 bei der Aufnahme durch die RAI Turin unter Pierre Dervaux - Mit dem beeindruckenden Gabriel Bacquier als Agamemnon und Michèle Sénéchal als Achill.



Wagners Version bringt die die Münchner Studioaufnahme mit Anna Moffo und Dietrich Fischer-Dieskau unter Kurt Eichhorn, die in den kleinsten Partien die jugendlichen Stimmen von Arlene Auger und Bernd Weikl aufleuchten läßt.



↑DA CAPO