Erwin Schulhoff

Der Meister des »Manifests«

Vermittler zwischen Avantgarde und Jazz.
(Decca)


Er vertonte nicht nur das »Kommunistische Manifest«, er war einer der originellsten Komponisten der Zwischenkriegszeit, nahm lange vor John Cage die Idee des »komponierten Schweigens« vorweg - und wurde von den Nationalsozialisten ermordet.

Die NS-Morde an den Komponisten der »Prager Schule«, wie man die musikalische Moderne der Dreißigerjahre in Prag vielleicht bezeichnen sollte, haben den Gang der Musikgeschichte entschieden beeinflußt - oder jedenfalls die Anschauung, die die Nachkriegsgeneration von der musikalischen Moderne entwickeln konnte.

Allzu dominant sind vielleicht doch die Ausläufer der Wiener Schule um Arnold Schönberg. Die zuletzt dankenswerterweise vorangetriebene Wiederentdeckung der Musik eines Erwin Schulhoff, um nur den prominentesten Vertreter der »Prager« zu nennen, belehrt uns eines Bessern: Es gab da neben den avantgardistischen, alle harmonischen Bande zur Tradition lösenden Bestrebungen der Wiener ganz andere Denkweisen, die auch willig Klänge der Unterhaltungsmusik einbezogen.

Das große Schweigen vor Cage

Sogar die radikalen Experimente eines John Cage fanden in Werken Schulhoffs vorbereitende Beispiele - ohne daß Cage sie vermutlich gekannt hat. Das Stück »In futurum« schrieb Schulhoff als Reaktion auf die Grauen des Ersten Weltkriegs. Es besteht lediglich aus Pausen und mündet in eine besonders »große Pause«, die Schulhoff »Marschall-Pause« nennt, als Aufforderung an die militärischen Befehlshaber dieser Welt, endlich zu schweigen.

Wie alle Komponisten seiner Zeit mußte auch stets damit rechnen, zwischen die Fronten der ästhetischen Betrachtungsweisen zu geraten. So schrieb beispielsweise Karl Westermeyer in den Signalen für die musikalische Welt in einer Besprechung der Kammermusik-Novitäten über Schulhoffs heute wieder viel gespielten Fünf Stücke für Streichquartett:

Die Fünf Stücke für Streichquartett von Erwin Schulhoff sind musikalische Nippsachen, teils geistreiche, teils eigenwillige Impressionen ohne großen Idealwert. »Valse viennese, Serenata, Czeca, Tango milonga« und »Tarantella«, also eine regelrechte Tanzsuite. Manches davon ist nicht ohne kammermusikalischen Reiz; z. B. der Tango und die Tarantella wirken auf ihre Art sehr gut. Bei dem »Valse viennesse« verwalzert Schulhoff einen zweiteiligen Taktrhythmus mit Synkopen und verlangt in einer erläuternden Fußnote, stets 3/4-Takt zu spielen. Muß man sich erst auf diese Weise interessant machen?

Jazz und Avantgarde

Schulhoff zeigte sich nicht nur an den Möglichkeiten der musikalischen Avantgarde seiner Zeit interessiert - er gab als Pianist unter anderem auf einem Spezialflügel des Klavierbauers Anton Förstter in Paris Konzerte mit Vierteltonmusik - sondern er war auch Jazzmusiker. Sein Schaffen umfaßt daher eine einzigartige Spannbreite, die es ihm ermöglichte, witzig-spritzige Stücke und eine höchst ernst gemeinte oratorische Vertonung des Kommunistischen Manifests unter einen Hut zu bringen.

Im Prager Musikleben war er bald eine fixe Größe, die sich als Anlaufstelle für alle Fragen der musikalischen Avantgarde verstand. Schulhoff bot auch Privatunterricht in Sachen Kompositiona an.

Inserat, Prager Tagblatt (1923)

Die russische Staatsbürgerschaft hatte man ihm bereits verliehen, doch hatte er in Verkennung der Realpolitik seine Ausreise aus dem »Reichsprotektorat« zu spät betrieben.
Er starb, von den Nationalsozialisten inhaftiert, während der Arbeit an seiner Achten Symphonie in der bayerischen Festung Wülzburg.

Violinsonaten

Das Duo DS (David Delgado und Stefan Schmidt) hat nun sämtliche Werke Schulhoffs für Violine und Klavier eingespielt. Sonaten und Suiten, die seinen Standpunkt zwischen der Moderne Bartókscher Prägung, Jazz und kühneren harmonischen Schichtungen erfahrbar machen - und die Bewunderung für die handwerkliche Perfektion des Komponisten steigen lassen, der solch disparate Ansätze mühelos (und oft wirklich inspiriert) zu vereinigen hilft. (Gramola 98982)

Lost Generation

Die CD ergänzt die vor einiger Zeit erschienene Lost Generation-Ausgabe, die in Interpretationen der Flötistin Ulrike Anton und des English Chamber Orchestras Schulhoffs Flötensonate und das Doppelkonzert (op. 63) enthalten (nebst einer expressiven, originell »neotonal« gesetzten Kammersymphonie des ebenso tragisch ums Leben gekommenen Viktor Ullmann).

Die bittere Frage, welch reiche Blüten die musikalische Moderne hätte treiben können, stellt sich dringlich -man hört hier große Versprechungen einer hintertriebenen Zukunft . . . (Gramola 98964).

↑DA CAPO