Bohuslav Martinu

1890 - 1959


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Martinu kam als Sohn eines Glöckners in Ost-Böhmen zu Welt und erwarb sich seine ersten Musikkenntnisse im Selbststudium. Als man sein Talent erkannte, erhielt er ein Stipendium, um die Violin- und und Orgelklassen des Prager Konservatoriums besuchen zu können. Nach seinem Abschluß wurde Martinu 1913 Geiger der Tschechischen Philharmonie. Während des 1. Weltkrieges wirkte er als Kantor in Polička, betrieb aber auf Rat Josef Sus nach dem Krieg Kompositionsstudien, die er nach einem Jahr bei Suk bei Albert Roussel in Paris fortsetzte.

Bis zum Angriff der Hitlertruppen auf Paris lebte Martinu in der französischen Metropole und erlebte Aufführungen durch erstklassige Dirigenten von Vaclav Talich in Prag, Charles Munch in Paris, Ernest Ansermet in Genf und Serge Kussewitzky in Boston.

Sein Zweites Streichquartett fand Eingang ins Programm der Jahresfeier der IGNM 1928.

Die Erstaufführungen des Concerto grosso in Wien, Prag und Paris (1938) mußten wegen der politischen Eskalation in Europa unterbleiben.

Die Premiere fand daher 1941 in Boston statt. Das ähnlich virtuose Doppelkonzert für zwei Streichorchester war 1940 noch in Basel erklungen.

Flucht in die USA

Im Juni 1940 floh Martinu auf dringendes Anraten des Pianisten Rudolf Firkusny - gerade noch rechtzeitig vor Ankunft der deutschen Truppen in der Stadt - aus Paris und gelangte in einer Odyssee über Südfrankreich und die Bermudas 1941 in die USA. Dort konnte nicht zuletzt dank der Unterstützung durch Kussevitsky seine Kompositions- und Lehrtätigkeit (Princeton) bald wieder aufnehmen. Über Kussevitskys Auftrag schrieb er auch die erste seiner Symphonien, für Mischa Elman sein Violinkonzert und als politisches Statement 1943 im Gedenken an die Ausrottung des böhmischen Dorfes Lidice ein symphonisches Memorial.

1946 holte ihn das Prager National-Konservatorium als Kompositionslehrer in die Heimat zurück. Doch lebte Martinu in der Folge abwechselnd in Prag, New York, Pratteln/Schweiz und bereiste die Welt. Ab 1952 war er amerikanischer Staatsbürger.

Der Oeuvre-Katalog Martinus ist reich. Im Zentrum des Interesses stehen mittlerweile die nach dem Exodus aus Europa entstandenen sechs Symphonien, die zu den stärksten Werken der Gattung nach 1945 gezählt werden dürfen. Der Tonfall von Martinus Musik ist unverkennbar, pflegt eine stark erweiterte Tonalität und eine farbenreiche, die Mitteln des Impressionismus fortführende Orchestrierung.

Mit Hindemith teilt Martinus Musik den Zug zum »Musikantischen«, was ihm oft auch - wie Hindemith - Vorwürfe eingetragen hat. Doch gelangen ihm kraftvolle, oft mitreißende Spielmusiken, etwa die nach Brahms vermutlich dankbarsten Cellosonaten der Musikgeschichte . . .

Die Symphonien hat Vaclav Neumann mit der Teschechischen Philharmonie exzellent eingespielt.

Für die Postmoderne ist Martinu einer der Schutzpatrone, hat er doch die Verbindung zur Tradition auch während der avantgardistischen Verheerungen der Nachkriegszeit nicht abreißen lassen.

Seine dramaturgische Spannweite war enorm, reichte von satirisch-kabarettistischem Tonfall wie in der Küchen-Suite bis zur tragischen Oper.

Sein 1938 uraufgeführtes Bühnenwerk Julietta oder Das Traumbuch beschreibt das vollkommene Aufgehen eines Menschen in einer surrealen Traumwelt, in der er Begebenheiten, Ängste, Visionen aus seinem realen Leben wiederfindet - auf der Suche nach einer Frau, die ihm einst begegnete, die er wieder findet, um sie wieder zu verlieren.
Dokument einer Weltflucht in Zeiten der immer größer werdenden Bedrängnis.
Martinus selbst beschreibt die Geschehnisse in seinem nach Georges Neveux' Juliette, ou La clé des songes (1930) so:
Das Spiel ist ein verzweifelter Kampf um Stabilität, eine Suche nach konkreten Erinnerungen, nach einem Bewußtsein, das nicht sogleich wieder entschwindet, sobald man es ergriffen hat, oder sich in eine Tragödie verwandelt, sobald man nach ihm zu greifen versucht.
Durch ein Gespinst unvorhergesehener Situationen und unlogischer Überlegungen läuft der Faden der menschlichen Erinnerung, doch wird der Faden durchschnitten, finden wir uns in einer Welt, in der die tiefste Sehnsucht des Menschen ist, seine Erinnerung wieder zu erlangen. Ergreife den Faden der Vergangenheit, eventuell auch den eines anderen Menschen, mache ihn zu deinem eigenen.

Ist der Mensch unfähig, auf festem Grund zu stehen und bei Verstand zu bleiben, west er in einer gedächtnislosen, zeitlosen Welt.

Griechische Passion


Ein im Zuge der Migrationswellen der Jahre um 2016/18 heftig diskutiertes Werk Martinus erlebte 1961 seine Uraufführung: Wieder hat der Komponist sein eigenes Libretto verfaßt, diesmal nach Der wiedergekreuzigte Christus von Nikos Kazantzakis. Hintergrund sind die ethnischen Säuberungswellen im Zuge des türkisch-griechischen Konflikts 1920. Eine Gruppe von Flüchtlingen erscheint in einem Dorf, in dem gerade ein Passionsspiel vorbereitet wird. Der Dorfgeistliche verweigert den Eindringlingen jede Hilfe, einige Dorfbewohner aber - jeweils eingedenk der ihnen zugedachten Rollen im Passionsspiel, nehmen sich der Fremden an und gründen mit ihnen eine neue Siedlung. Als jedoch dort die Not steigt und die Bewohner um Hilfe im Dorf ansuchen, tötet der Darsteller des Judas einen der Flüchtlinge. Die andern sind gezwungen, weiterzuziehen.

Nachdem die geplante Uraufführung dieser Oper in Covent Garden nicht stattfinden konnte, mußte Martinu sein Werk kräftig überarbeiten. Diese neue Version wurde 1961 in Zürich gezeigt. Die Urfassung erlebte ihre Premiere erst anläßlich der Bregenzer Festspiele 1999.

↑DA CAPO