La cronaca del luogo
Zweite große Berio-Uraufführung in Salzburg
Jubel für Langeweile: Salzburg eröffnete mit der Uraufführung von Luciano Berios "Cronaca del Luogo" in der Felsenreitschule.
Die Zeiten, da Novitäten ausgepfiffen wurden, sind längst vorbei. Heutzutage ist so gut wie jede Uraufführung für Veranstalter von Festivals eine sichere Sache. Es ist auch wahr: Salzburg muß sich wie jedes großangelegte öffentliche Kulturspektakel auch um das Zeitgenössische kümmern.
Einem Festival von Format steht es auch wohl an, einen der prominentesten Komponisten unserer Tage wieder einmal um eine Opernspende zu bitten. Schließlich ist es schon eineinhalb Jahrzehnte her, daß Berios "Re in ascolto" im Kleinen Festspielhaus zur Uraufführung kam. Nun also "Cronaca del Luogo". Assoziationstheater Wer Berio um ein neues Werk bittet, muß gewärtig sein, daß nichts leicht Verständliches dabei herauskommt. Der "Re" war ja in seinem Surrealismus nachgerade noch ein simples Komödienspiel, "Cronaca del Luogo" orientiert sich eher an den weitaus verschachtelteren, unzugänglicheren Berio-Sujets "Outis" oder "Opera". Assoziationstheater, aufregend für alle, die nicht nur aus der Radiowerbung wissen, daß die wahren Abenteuer im Kopf stattfinden.
Talia Pecker-Berio hat für die "Azione musicale" den Text verfaßt. Sie ließ sich von der Bibel, aber auch von Gedichtzeilen Paul Celans und Dalia Ravikovitchs inspirieren. Die "Chronik des Ortes" soll, symbolisch verstanden und in Anlehnung an eine der hebräischen Umschreibungen für den Namen des Unaussprechlichen, auch eine "Chronik Gottes" sein.
Schlaglichter auf existentielle Situationen des Menschen werden geworfen, reichlich kursorisch, skizzenhaft und wenig greifbar. Nicht einmal von archetypischen Situationen kann sprechen, wer das Libretto liest; viel eher von freien Assoziationen zu solchen, die ein Regisseur auf die Bühne zaubern müßte, um Licht ins Dunkel zu bringen.
Hier halten wir bereits beim ersten Salzburger Problem. Dem Team Claus Guth (Regie) und Christian Schmidt (Bühne und Kostüme) darf kaum nachgesagt werden, es sei mit genialischer Theaterpranke ans Werk gegangen. Vielmehr scheint es, die allgemeine Ratlosigkeit, die sich beim Lesen dieses Textes in der Regel breit macht, habe sich auch während der langen Beschäftigung, die Regisseur und Ausstatter einem Werk üblicherweise widmen, kaum gelegt.
Wo zumindest starke Bilder, suggestive Bewegung für Stimmung sorgen könnte, bleiben die szenischen Aktionen bläßlich. Selbst dort, wo der Chor gegen die "bluttriefende Wand" ansingt, die in Gestalt der Arkaden der Felsenreitschule sämtliche Szenen beherrscht, kommt wenig Spannung auf. Übertriebene Clownerien Einmal, wenn der auch stimmlich höchst prägnante Urban Malmberg als "Mann ohne Alter" von Kindern verfolgt erscheint, entsteht in Erinnerung an Mussorgskys "Boris Godunow" und den Auftritt des Blödsinnigen beklemmende Wirkung, die im Folgenden von den übertriebenen, völlig als Selbstzweck erscheinenden Clownerien wieder ausgelöscht wird.
Hier absolviert David Moss als Nino immerhin atemberaubende Zungenbrecher, wofür er den lautesten Applaus des Abends erntet. Dicht gefolgt von Hildegard Behrens, versteht sich, die der Star der Aufführung ist und als Primadonna namens "R" durchs Geschehen streicht. Selbstverständlich sind ihre vokalen Einwürfe imposant, zuweilen sogar von jener leuchtkräftigen Italianità erfüllt, die bei Berio durchaus ihren Sinn hat. Denn die Klangsinnlichkeit der Partitur bleibt großen italienischen Vorbildern nichts schuldig.
Berio bedient sich der avanciertesten Mittel, ohne daß je die hie und da erschreckende Grellheit neuerer Partituren nördlicherer Provenienz erreicht würde. Er versteht sich aufs Orchestrieren und weiß auch, wie man zur Not alle zwölf Töne der Skala übereinanderschichtet, ohne daß Kakophonie entsteht.
Berios Technik ist stupend. Irgendwie schafft er es, daß ein ganzes Werk wie aus einem einzigen, vielschichtigen Grundklang heraus entwickelt scheint, aus einem Grundklang, der mehr oder weniger deutlich unausgesetzt im Raum schwingt, aus dem sich, sanft oder drastisch verstärkt einzelne Töne oder Phrasen abheben.
Dabei sind die Register immer so gezogen, daß quasi-tonale Orientierungen möglich sind, sei es, daß ein einzelner Ton orgelpunktartig herrscht oder eine bestimmte, klar strukturierte Harmonie den Sängern die Orientierung ermöglicht. Freilich: Ein dieserart konstruierter Klangkosmos bedürfte beherzter Analyse durch den Dirigenten, der ihn mit Solisten, Chor und Orchester mutig erobern müßte. Ätherischer Schönklang Sylvain Cambreling ist ein guter Organisator.
Er sorgt dafür, daß die Solisten _ vor allem auch der schönstimmige Phanuel von Matthias Klink _ die grandiosen, sicher studierten Chöre (Arnold Schönberg und Tölzer Knaben) ebenso wie das über alle Arkadengänge verteilte Klangforum Wien ätherischen, möglichst wohl austarierten Schönklang produzieren. Wo sich die Musik aber verdichten, wo sie suggestiv, beredt werden könnte, bleibt das Engagement der Ausführenden zurückgenommen; hierin ähnelt die musikalische Komponente des Abends der szenischen.
Man macht, scheint mir, zu wenig aus dem vorgegebenen Text. Das provoziert nach anfänglichem Faszinosum auf Dauer doch Langeweile. Darf ich sagen, daß ich glaube, daß zuletzt vor allem aus grundsätzlichen Erwägungen gejubelt wurde? Salzburg hat wieder einmal mit großen Mitteln eine Oper uraufgeführt. Und das ist ja wirklich grundsätzlich gut und richtig so. Ob "Cronaca del Luogo" ein lebensfähiges Meisterwerk sein könnte, wage ich nach dieser Präsentation freilich nicht vorauszusagen.