Boris Pokrowskij
Die russische Regie-Legende über Schostakowitsch, die Kultur und das Lachen im Theater.
Der Kunstoptimist, der aus der Kälte kam
Interview, »Die Presse« (15. März 1995)
Die Frage, warum sich Boris Pokrowskij, ein Regisseur, der nicht zuletzt als Chef der Moskauer Kammeroper sein Leben lang mit den größten russischen Meistern von Prokofieff bis Schnittke zusammengearbeitet hat, in Wien mit den locker-komödiantischen, aber gewiß nicht schwergewichtigen »Vier Grobianen« von Ermanno Wolf-Ferrari beschäftigt, geht ins Leere: »Was wollen Sie? Ich habe mit Schostakowitsch zusammengearbeitet, mit Prokofieff und Strawinsky. Warum soll ich auf einen launigen Abend mit Wolf-Ferrari verzichten? Ich bin alt. Ich brauche das!«
»Keine Politik kann die Entwicklung der Kunst verhindern!« In Moskau hat der Regisseur jüngst eine Rarität aus dem Jahr 1916 ausgegraben, die Oper eines heute vergessenen Russen. »Die Musik ist vielleicht nicht erstklassig. aber es war ein Riesenerfolg. Die Leute haben geweint vor Rührung, nicht weil alles so tragisch war, was dargestellt wurde, sondern weil sie die seelischen Konflikte so hautnah miterlebt haben. Die Russen seufzen ja gern.« Und toben sich hernach lachend und tanzend aus. Wie Pokrowskij jetzt.
»Wenn ich zuviel seufze, sterbe ich schnell – und das geht nicht, denn ich habe noch große Pläne. Zum Beispiel eine Schostakowitsch-Operette, die »nie ein Erfolg war. Der Komponist hat sie geschrieben, wie er mir selbst erzählt hat, weil er dringend Geld brauchte. Jetzt spielen wir das Stück zu seinem Andenken, und es wird sicher gut ankommen. Schostakowitsch war ja ein witziger, lebensfreudiger Mann. Das vergißt man gern. Er lachte viel, geradezu unmäßig. In diesem Geist muß man das Stück inszenieren.«
Sowjetische Kulturpolitik
Pokrowskij lüftet allerhand Geheimnisse über die jüngere russische Vergangenheit. Der lachende Schostakowitsch, hier eine ungewöhnliche Vorstellung, ist Teil seines »Hintertreppen«-Weltbildes, von dem man im Westen zu wenig Kenntnis hat, obwohl es nach Pokrowskijs Meinung einen Gutteil des Kulturlebens der ehemaligen Sowjetunion bestimmt hat: Die Geschichtsschreibung kennt die Zensur und die Willkür, die der Kunst jahrzehntelang Fesseln auferlegt hat. Aber: »Wir haben unser Leben lang bei Kulturkonferenzen und Versammlungen Ja und Amen zu allem gesagt, uns dann aber in die Küche zurückgezogen und Witze gemacht. Über Stalin wie über alle anderen. Es ist ja ganz egal, welche Regierung an der Macht ist – die Kommunisten hatten wenigstens noch Ideale. Aber keine Politik der Welt kann die Entwicklung der Kunst aufhalten.«
Kulturleben in der Küche
»Hätten wir damals die Küchen gesperrt, dann wäre das Kulturleben vor die Hunde gegangen. Dort waren die Philosophie, die Kunst.« Dort ist es wohl noch immer so und treibt seine Blüten, die dann doch irgendwie auch an die Außenwelt dringen. Auch heute, obwohl die wirtschaftliche Situation alles andere als rosig ist, blüht, so der Regisseur, die Kunst in Moskau: »Es entstehen ununterbrochen neue Theater, sogar kleine Operntruppen. Je nachdem, ob das gut ist, was die präsentieren oder nicht, ist auch genügend Publikum da. Talente gibt es enorm viele!«
»Ob Diktatur, ob Demokratie, ob Parteichef oder Präsident, man kann die Kultur mit Füßen treten, aber nicht die Kunst aufhalten. Und mit Kultur meine ich die Beziehungen zwischen den Menschen, wie die Gesellschaft zu Fragen der Bildung, der Gesundheit et cetera steht.« Er läßt keinen Zweifel, daß die Kunst im argen liegt. Daß die Kunst aber jenseits dieser kardinalen Lebenfragen nicht zu leiden hätte, wenn, wie Pokrowskij sagt, »die Kultur mit Füßen getreten« wird, scheint eine kühne These.
Leiden, Lachen, Stalin
Ob Schostakowitsch, dem die stalinistische Kulturpolitik so übel mitgespielt hat, daß er seine künstlerischen Aussagen oft doppelt und dreifach chiffrieren mußte, um nicht der Zensur zum Opfer zu fallen, ob dieser leidgeprüfte Schostakowitsch – als berühmtestes Beispiel von vielen – solchen Aussagen seines Freundes und langjährigen künstlerischen Mitstreiters Pokrowskij heftig widersprochen hätte? »Aber ganz im Gegenteil. In der Chiffrierung liegt ja auch der besondere Reiz. Er hätte mir bestimmt recht gegeben. Wir haben zum Beispiel in der Moskauer Kammeroper den sogenannten ,Antiformalistischen Rajok’« im Repertoire, ein Stück, das Schostakowitsch eben sozusagen in der Küche komponiert hat.
Damals war er gerade den heftigsten Angriffen der kommunistischen Kunstpolitik ausgesetzt, die gegen den sogenannten Formalismus zu Felde zog. Schostakowitsch komponierte eine spritzige Satire, eben den Rajok, in dem die besten Witze über Stalin verarbeitet sind. Das spielen wir schon seit zehn Jahren mit enormem Erfolg.«
Ob man so etwas nicht auch in Wien zeigen könnte: »Gott allein weiß es", kommentiert Pokrowskij mit Verweis auf sein Alter, dem er freilich mit spürbarer Lebens- und Arbeitslust begegnet. »Früher hätte ich auf eine solche Frage gesagt: Hans Gabor weiß es«, spielt Pokrowskij auf den verstorbenen Gründer und Direktor der Wiener Kammeroper an. »Es war ja auch Gabors Idee, den Wolf-Ferrari hier zu machen, ich wäre ja nicht drauf gekommen.«
So kehrte der Altmeister Anno 1995 zum Ausgangspunkt zurück, zum Theater, seinem Lebenselixier, das zwischendurch eben auch zum Vergnügen da sein muß.