Tagebuch eines Verschollenen

Entstehung

Das Werk basiert auf einer wahren Begebenheit aus Mähren: Ein braver Bauernbursche war verschwunden und man sorgte sich um sein Schicksal. Die Polizei ging einige Zeit lang von einer Straftat aus. Doch in der Kammer des »Verschollenen« fanden sich seine Aufzeichnungen.

In diesen berichtet Janíček, der junge Bursche aus »gutem Hause«, von seiner Affaire mit einer schönen Zigeunerin. Er hatte sich geweigert, die ihm von seinen Eltern zugedachte Braut zu heiraten und ging mit dem Zigeunermädchen Zefka, als sie schwanger wurde, in die Fremde.

Die Identität des Autors wurde von Historikern erst 80 Jahre später enthüllt, als sich ein Brief des Komponisten fand, in dem er Ozef Kalda (1871–1921) als Textdichter nannte.

Kaldas Tagebuch war in zwei aufeinanderfolgenden Ausgaben der mäherischen Volksnachrichten (»Lidove Novine«) 1916 abgedruckt worden und hatte Janáček, der sich gerade in die viel jüngere Kamila Stösslová verliebt hatte, zu einem höchst ungewöhnlichen Liederzyklus inspiriert, an dem nicht nur der Tenor als Erzähler, sondern auch ein kleiner Chor und eine Alt-Solistin beteiligt sind.

Der Klavierpart übernimmt die beredten, oft aus kleinen und kleinsten Motiven repetitiv gebildeten Orchesterbegleitung in Janáčeks Opern. Die Stilmittel sind dieselben wie im Theater: Unmittelbar Umsetzung von Naturlauten und Emotionen verquicken sich zu einer dramaturgischen Polyphonie aus Situations- und Seelenbespiegelung.

In den traumverlorenen Visionen werden auch die Stimme des Zigeunermädchens und die Naturstimmen des Waldes (Frauenchor) hörbar. Im Moment des Entschlusses, sich von der Heimat zu lösen und mit Zefka in die Welt zu ziehen, treibt Janáček die insgesamt durch hohe Ansprüche an Kraft und Ausdruck geforderte Tenorstimme bis zum hohen C.


Aufbau


I. „Ich traf eine junge Zigeunerin“
II. „Ist sie noch immer da“
III. „Wie der Glühwürmchen Spiel“
IV. „„Zwitschern im Nest schon die Schwalben“
V. „Heut’ ist’s schwer zu pflügen“
VI. „Heißa! Ihr grauen Ochsen“
VII. „Wo ist das Pflöcklein hin“
VIII. „Seht nicht, ihr Öchselein“
IX. „Sei willkommen, Jan“
X. „Gott dort oben, sag, warum nur“
XI. „Von der Heidin Wangen Zauberduft“
XII. „„Dunkler Erlenwald“
XIII. Zwischenspiel
XIV. „Sonn’ ist aufgegangen“
XV. „Meine grauen Ochsen“
XVI. „Was hab’ ich da getan“
XVII. „Flieh, wenn das Schicksal ruft“
XVIII. „Nichts mehr, nichts mehr denk ich“
XIX. „Wie die Elster wegfliegt“
XX. „Hab ein Jüngferlein“
XXI. „Vater, dem Tag’ fluch ich“
XXII. „Leb denn wohl, Heimatland“

Aufnahmen

Bei diesem Werk - wie auch bei den Opern dieses Komponisten - wirkt die Kluft zwischen dem Publikums-Interesse an Verständlichkeit und der nach wie vor modischen Tendenz, Stücke nur in ihren Originalsprachen aufzuführen besonders problematisch. Niemand, der des Tschechischen nicht mächtig ist, wagt es heutzutage zuzugeben, daß ihn eine Aufführung dieses Tagebuchs im Original kalt läßt.

Die Argumente der Verteidiger der Originalsprachen-Doktrin - vor allem jenes: Die Musik und die Sprache seien gerade bei Janacek vollkommen miteinander harmonisiert (was natürlich ebenso für Verdi oder Wagner gilt) - entkräften sich sogleich, sobald man eine Wiedergabe durch einen klugen Interpreten in einer angemessenen deutschen Übersetzung (die erste, sehr poetische stammte von Max Brod) zu hören bekommt. In diesem Sinne ist nach wie vor für eine Erstbegegnung die historische Live-Aufnahme mit Ernst Haefliger, die 1955 auf Philips erschien und - einigen der Live-Belastung geschuldeten Fehlern zum Trotz - eine der mitreißendsten Dokumente erfüllter Janacek-Interpretation geblieben ist. (Philips/seit 2020 in einer Edition von Intense Media bei diversen Streamingdiensten wieder abrufbar.)

Unter Studiobedingungen hat Haefliger das Werk später auch für die Deutsche Grammophon in Stereo aufgenommen, unter den Augen von Rafael Kubelik, der offenbar die Ansicht teilte, der Text müsse in einem solch intimen Werk den Hörer »direkt« ansprechen. Haefliger präsentiert sich auch in dieser Einspielung souverän und bewältigt die - wie sooft bei diesem Komponisten - zuweilen extreme Tessitura der Partie, ohne an Wortdeutlichkeit einzubüßen. Die optimale Stereo-Version, nach wie vor.


DA CAPO