Zum Bilden übermenschlich begabt

Hindemiths Künstleroper in Hamburg

»Mathis der Maler« eröffnete umjubelt die Ära von Intendantin Simone Young.

27. September 2005
Ein kluger Schachzug der neuen Intendantin und Generalmusikdirektorin der Hamburgischen Staatsoper: Nachdem Simone Young ihre musikalische Kompetenz als Konzert- und Repertoiredirigentin vom ersten Tag ihrer Amtszeit bewiesen hatte, leitete sie die erste Premiere: Paul Hindemiths "Mathis der Maler".

Den Rang dieses Stücks exemplarisch zu zeigen gehört zu den nobelsten Aufgaben eines Opernensembles. Vor allem: Die mächtige Partitur verlangt ein Riesenaufgebot an Orchester, Chor und Solisten, weshalb die Belegschaft des Hamburger Hauses gleich mit der ersten Neuinszenierung der neuen Intendanz vollzählig versammelt ist.

Man ging spürbar engagiert zu Werke. Vor allem musikalisch gelang eine Ehrenrettung dieser Komposition, deren Historie symptomatisch für den Gang der deutschen Kulturgeschichte im 20. Jahrhundert ist.

1934, als ruchbar wurde, dass Hindemith ein Riesenwerk über die Stellung des Künstlers in der politischen Welt schreiben würde, bat ihn Wilhelm Furtwängler, eine Konzertsuite aus der zu erwartenden Oper zusammenzustellen. Die "Symphonie Mathis der Maler" wurde unter Furtwängler im bereits von Hitler regierten Berlin uraufgeführt, triumphierte beim Publikum und brachte die braunen Machthaber in Rage.

Im Zuge des vom Dirigenten vom Zaun gebrochenen Dialogs über den "Fall Hindemith" verlor Furtwängler selbst seine Nazi-Ämter, und der Komponist wurde als "entartet" deklariert. Zum Glück, muss man aus heutiger Sicht sagen, haben die Nationalsozialisten das der Operndichtung Hindemiths innewohnende Potenzial, das sich zum Teil durchaus auch für die faschistische Kulturpolitik vermarkten hätte lassen, nicht erkannt - oder nicht erkennen wollen.

Zwar geriet Hindemith als Komponist nach 1945 trotz seiner erzwungenen Emigration aus dem "Dritten Reich" unter die Räder führender Kultur-Vordenker vom Schlage eines Theodor W. Adorno. Vom Verdikt der Rückschrittlichkeit hat sich seine Musik auf Grund ihrer bewussten Abkehr von den avantgardistischen Idealen und der Hinwendung zur Tonalität bis heute nicht ganz erholt. Doch setzt vielleicht ein Besinnungsprozess ein, der sich im Zuge der Freizügigkeit der Postmoderne von restriktiven Kunst-Doktrinen löst - und die politische Konnotation der Handlung und der Werkgeschichte zum Anlass nimmt, "Mathis der Maler" neu zu diskutieren.

Wie nötig das ist, beweist die Hamburger Aufführung dank Simone Youngs sorgfältiger Einstudierung und der geradezu glühenden Leidenschaft, mit der Chor und Orchester auf dem Boden dieser peniblen Vorbereitungsarbeit auch realisieren, was sozusagen zwischen den Notenzeilen steht.

Hindemiths Musik ist, das hört man hier, weil sie ohne jede Kürzung mit Feueratem dargeboten wird, ein dramatisches Meisterwerk, erfüllt von expressiven Charakterbildern, die menschliche Schicksale drastisch fühlbar werden lassen. Die historischen Episoden des Kampfes zwischen Katholiken und Lutheranern, der Gräuel der Bauernkriege bilden den bewegten Hintergrund, vor dem sich die Tragödie des Künstlers in der Zeit der Bedrängnis abhebt. "Ist, dass du schaffst und bildest, genug?", fragt sich Mathis und wird von Bauernführer Schwalb insistierend wieder gefragt. Erst schwere Prüfungen führen den Maler, den Hindemith als Mathias Grünewald, Schöpfer des Isenheimer Altars, vorstellt, zurück zu seiner Kunst. Nicht Politik, nicht das blutige Tagesgeschäft ist sein Metier: "Du bist zum Bilden übermenschlich begabt", verkündet der Heilige Paulus dem Träumer Mathis während der zentralen "Versuchung des Heiligen Antonius": "Geh hin und bilde".

Musikalisch werden die inneren und zwischenmenschlichen Kämpfe so plastisch wie die äußerlichen Raufhändel und Scharmützel der Bauernkriege. Das Orchester vor allem legt die expressionistischen Qualitäten der Musik bloß, musiziert mit Hingabe und unausweichlichem Impetus. Die Sänger halten mit, nehmen die musikalische Spannung auf und verdichten sie. Allen voran der gewaltige Titelheld von Falk Struckmann, dessen Stimme zu zärtlichen Phrasen im Dialog mit Schwalbs Töchterchen Regina (hell und sauber tönend: Inga Kalna) ebenso befähigt ist wie zu verzehrendsten emotionellen Ausbrüchen - etwa in der Auseinandersetzung mit seinem Fürsten Albrecht von Brandenburg, den Scott Mac Allister allen teuflischen tenoralen Anforderungen zum Trotz mit komödiantischer wie ernsthafter Attitüde zum wankelmütigen, doch durchschlagskräftigen Fürsten macht.

Packende musikalische Erzählung

Susan Anthony tut das Ihrige, die ebenso schwierigen Aufgaben zu meistern, die Hindemith der Ursula Riedinger in die Kehle diktiert hat: Sie muss von der liebevollen Zuwendung bis zum hochexpressiven, hehren Ausbruch, dem weltpolitische Bedeutung zuzumessen ist, alle Register ziehen und reüssiert bei den meisten souverän.

Solide Sänger treiben die Handlung voran, der martialische Bauernführer Schwalb von Pär Lindskog, der verschlagene Rat Capito von Peter Galliard und manch anderes Mitglied des Ensembles. Bühnenbildner Alexander Lintl widerstand der Versuchung, allzu viele Bilder des Isenheimers Altars zu projizieren, überließ deren Beschreibung Hindemiths Text und Musik, setzte lieber mit kunstgeschichtlichen Zitaten Bezüge zu jüngeren malerischen Kommentaren politischer wie religiöser Natur. Regisseur Christian Pade modellierte, hart am Text, vor allem die Beziehungen zwischen den Figuren, sinnfällig auch die oft unsicheren Positionen von Liebenden und politisch Agierenden, aber weniger deutlich, oft geradezu ungeschickt die großen Chor-Tableaus.

Doch: Wer "Mathis der Maler" kennen lernen möchte, erfährt hier dank detailgenauer, packender musikalischer Erzählung, dass es eines der großen Meisterwerke nicht nur des 20. Jahrhunderts ist. Und - was in Deutschland wohl Kritiker-Schelte bedeuten wird, aber hoffentlich die Zuwendung des Publikums - er erkennt auch auf der Bühne Stück und Handlung, wie sie im Buch zu lesen sind. Eine Ehrenrettung für Hindemith also, fulminanter Start in eine neue Hamburgische Opernära jedenfalls.

↑DA CAPO