Aschenbach hat sich verirrt

9. November 1994

Der »Tod in Venedig« von Benjamin Britten könnte, lernt man bei der Wiener Erstaufführung im Jugendstiltheater, ein sehr simples Stück sein.

Hofmannsthals Zerbinetta hätte es etwa auf den folgenden Nenner gebracht: "Ein biederer Familienvater entdeckt in Venedig seine Homosexualität, versäumt in darob ausbrechender Verwirrung die Abfahrt aus der Stadt und stirbt an der grassierenden Seuche".

In Anbetracht der Tatsache, daß sich bei Britten keine Zerbinetta, keine Liebhaber ins dieserart geschilderte Spiel mischen, um es "einigermaßen anständig auszustaffieren", hätte Regisseur John Lloyd Davies durchaus raffiniertere dramaturgische Erwägungen anstellen können, um der Gefahr der Langeweile zu entgehen.

Brittens Thomas-Mann-Oper verzichtet tatsächlich auf alle handfesten Theatertricks, erzählt in entsprechend sanftem, melancholischem E-Dur-Tonfall die Geschichte eines Schöngeistes, der seinen idealistischen Träumen von künstlerischer Vollendung nachhängt und deren Parallelen im wirklichen Leben sucht. Das verträgt keine lauten Töne und auch keine virtuosen Cabaletten.

Es vertrüge aber möglicherweise eine buntere, abwechslungsreichere Darstellung der Stationen einer unumkehrbaren Verirrung. Stattdessen nimmt man im Jugendstiltheater auf einer rund um das (unter Andreas Mitisek ordentlich, aber wenig subtil oder feinsinnig aufspielende) Orchester gezimmerten Laufstegbühne den behutsamen, unspektakulären Tonfall der Musik auf.

Da gibt es schöne, unaufdringliche Bilder vom weich im Takt rudernden Gondoliere bis zu Manuel Scherzers mit hübsch wehendem Blondhaar absolvierten athletischen Ertüchtigungen, angesichts derer der Dichter Aschenbach, Adonis ahnend, vom Weg der Realität abkommt.

Peter Kazaras singt den so Verwirrten und beweist, daß man sich dieser kräfteraubenden, den Abend allein tragenden Partie durchaus untadelig entledigen kann.

Martin Winkler, arg grimassierend, deutet als Kontrastmittel in wechselnder Gestalt das Böswillige in Mensch und Natur an. Charles Maxwell, dunkelhäutig und nur mit Lendenschurz und Lampe bewehrt, leuchtet als falsettierender Apollo dann jeglichem heterosexuellen Hoffnungsschimmer heim: Damen erheben nur im Chor und im Ensemble als stichwortbringende Erdbeerhändlerinnen ihre Stimmen.

Das ist das Stück im Jugendstiltheater, rund, sehr professionell erzählt, also verdienstvoll. Denn Wien lernt auf diese Weise ein schönes Werk der jüngeren Musikgeschichte endlich kennen - die letzte Oper eines raffinierten englischen Komponisten.

↑DA CAPO