Die Streichquartette

Sechs klingende Tagebuch-Bände

                   


Auf Béla Bartók trifft die oft gebrauchte Formel vom Tagebuchcharakter des Streichquartetts tatsächlich zu. An seinen sechs Beiträgen zur Gattung läßt sich die stilistische Entwicklung des ungarischen Komponisten ablesen.

I

  • Lento
  • Poco a Poco accelerando all'allegretto - Introduzione. Allegro
  • Allegro vivace
  • Das 1908/09 entstandene erste Quartett entstand noch der Übergangsphase zur radikalen musikalischen Sprache, ist im ersten, langsamen Satz getragen von lyrischer Gesanglichkeit, die freilich durch dissonanten Harmonik mehr und mehr geschärft scheint. Chromatik und Passagen, in denen die Ganztonleiter dominiert, unterminieren das Gefühl für die tonale Basis.

    Der Melodiker Bartók spricht hier in jener Sprache, mit der er im Stirnsatz des Ersten Violinkonzert (später veröffentlicht als erstes seiner Deux Portraits) seine (unerwiderte) Liebe zur Geigerin →  Stefi Geyer besingt.

    Die Herausforderung der hohen technischen Ansprüche der Gattung Streichquartett nimmt Bartók an: Gleich die melodischen Verschlingungen zu Beginn sind von höchster kontrapunktischer Meisterschaft und nehmen konstruktive Neu-Interpretationen des barocken Fugen-Prinzips vorweg, wie der Komponist sie später im ersten Satz seiner Musik für Saiteninstrumente auf die Spitze treiben wird.
    Im Zentrum des Ersten Streichquartetts steht ein choreographisch bewegtes Allegretto, das aus charmant duettierenden Passagen herauswächst – und in ein Final-Allegro übergeht, dessen heftig akzentuierte Rhythmik den tänzerischen Charakter des Mittelsatzes in ein kraftvoll-bodenständiges Idiom überträgt, das den Volksmusik-Forscher Bartók verrät. Imitatorische Elemente und zwei Adagio-Einschübe sorgen für die an die klassische Rondoform erinnernde formale Gliederung.     

    II

  • Moderato
  • Allegro molto capriccioso
  • Lento
  • Das zweite Streichquartett, 1915–17 komponiert, ist ebenfalls dreiteilig angelegt, doch umrahmen hier zwei langsame Sätze ein pulsierendes Scherzo. Das einleitende Lento gehört zu den bewegenden Espressivo-Sätzen Bartóks, heftig bewegt, aber immer wieder in jene empfindsam-stille Bewegung zurückgenommen, die im resignativ verklingenden Schluß-Satz fast vollständig dominiert. Das zentrale Allegro ist, wie die Vortragsbezeichnung suggeriert „molto capriccioso“, vorangetrieben von energetischen, der echten ungarischen Volksmusik entlehnten Rhythmen und scharf dissonierenden Akkorden, denen pittoreske Pizzicato-Wirkungen gegenüberstehen. Diese wiederum können als satirisches Echo einer zauberischen „Gitarren“-Passage kurz vor Schluß des ersten Satzes gehört werden.    

    III

  • Prima parte. Moderato
  • Seconda parte. Allegro
  • Ricapituazione della prima parte. Moderato
  • Coda- Allegro molto
  • Im September 1927 vollendete Bartók sein Drittes Quartett, das formal kühnste Stück der Reihe. In einem großen Satz gearbeitet umschließen wiederum zwei ruhige Abschnitte (moderato) einen raschen, zentralen Teil.
    Die harmonischen Spannungen werden in den expressionistischen Moderato-Sätzen extrem gesteigert, während im Allegro rhythmische Akzente für enormen Elan sorgen. Ein vierter Abschnitt ist als »Coda« bezeichnet, nimmt die Rasanz des Mittelteils wieder auf und explodiert geradezu in die Schlußakkorde.     

    IV

  • Allegro
  • Perstissimo, con sordino
  • Non troppo lento.
  • Allegretto pizzicato.
  • Allegro molto
  • Das im Sommer 1928 entstandene Vierte Streichquartett entwickelt die Sprache des vorangehenden Werks weiter.
    Bartók kultiviert in diesem Werk eine Art Brückenform: Die gewichtigen Allegro-Sätze 1 und 5 umklammern die drei Mittelsätze, die wiederum aus zwei Scherzos bestehen, in die (quasi als "Trio") das zentrale Adagio eingebettet ist.
    Dieses hebt an wie eine elegische Improvisation des Cellos überlagert von schwebenden Akkorden, deren Harmonik sich vollständig im freien Raum zu bewegen scheint.
    Zur äußersten Verdichtung, die hier erreicht scheint, kontrastieren die Zentrifugalkräfte, die von der unablässigen Bewegung der umrahmenden Scherzi entfesselt werden, "prestissimo con sordino" im zweiten, durchwegs pizzicato im vierten Satz. Energetik und harmonische Radikalität vereinigen sich in den Ecksätzen des Werks zu ungestümer, im Finale brutal entfesselter Gewalt.       

    V

  • Allegro
  • Adagio molto
  • Scherzo. Alla bulgarese
  • Andante
  • Finale. Allegro vivace
  • Im Sommer 1934 setzt Bartók diesem eruptiven Stück ein Fünftes Streichquartett entgegen, das auf den ersten Blick das Formkonzert von Nr. 4 zu übernehmen scheint. Doch steht diesmal ein Scherzo im "bulgarischen Rhythmus" im Zentrum, umrahmt von zwei langsamen Sätzen.
    Die Expressivität der Musik wirkt ähnlich radikal wie im Vorgängerwerk, allerdings scheinen hier mehr tonale Haltepunkte eingestreut, die dem Hörer die Orientierung erleichtern. Auch tauchen vermehrt volksliedartig schlichte Motive auf, die freilich avantgardistisch-kunstvoll eingebunden werden.    

    VI

  • Mesto - Piu mosso, pesante - Vivace
  • Mesto - Marcia
  • Mesto - Burletta
  • Mesto (molto tranquillo)
  • 1939 entsteht Streichquartett Nr. 6, das erste vollendete Werk der amerikanischen Emigration. Der Komponist ist auf dem Weg zu einer entspannteren, vielfach wieder in harmonisch geklärte Regionen zurückführenden Tonsprache. Und doch finden sich auch hier wilde, ungezügelte Passagen, namentlich in den beiden Mittelsätzen, einem trotzig verfremdeten »Marsch« und einer grotesk-thetralisch gestikulierenden »Burletta«.
    Die ersten drei Sätze heben mit einem zunächst von der Bratsche exponierten, elegischen Sologesang an, der im Finale dann zu einem einzigen großen Klagelied erweitert wird.
    Die tiefe Traurigkeit, die in dieser Musik mitschwingt, wird gern als resignativer Ton des Abschieds gedeutet, eines erzwungenen Abschieds von Europa und der ungarischen Heimat, der für Bartók endgültig werden sollte.

    VII

    - - - Pläne zu einem Streichquartett Nr. 7 kann der Komponist nicht mehr realisieren. Er starb am 26. September 1945 im New Yorker Exil an den Folgen seiner Leukämieerkrankung.

    Aufnahmen

     Die über lange Jahre als maßstabsetzend geltende Gesamtaufnahme der sechs Quartette kam vom New Yorker Juilliard Quartet, aufgenommen Anfang der Sechzigerjahre. Diese Einspielung wurde bereits in der LP-Ära immer wieder aufgelegt und war dann auch rasch auf CD greifbar.

    Diese (tatsächlich exzellente) Stereo-Aufnahme überdeckte die Tatsache, daß von der Vorgänger-Formation der »Juilliards« bereits in den Fünfzigerjahren bei CBS - noch in Mono - eine bahnbrechende Aufnahme in den Handel kam, die in Europa von Philips verrieben wurde. Diese Aufnahme in der Originalbesetzung des Ensembles mit Robert Mann und Robert Koff, Violine, Raphael Hillyer, Bratsche, und Arthur Winograd, Cello, gehört bis heute für Kenner zu den Pflicht-Stücken einer guten Diskographie. Zumal sie mit dem Bartók-Enthusiasten Robert Mann von einem Primgeiger angeführt wird, der bei der Uraufführung des Sechsten Streichquartetts (durch das Kolisch-Quartett mit Jenö Léner, dem ehemaligen Primarius des Budapester Léner-Quartetts, 2. Violine) anwesend war und noch zu Lebzeiten des Komponisten dessen Nähe suchen konnte.

    Als die »Juilliards« nach einer »Generalprobe« vor Studenten des von Sergej Kussewitsky gegründeten Tanglewood Festivals im Jahr 1949 die erste zyklische Aufführung der Bartók-Quartette in der Geschichte anboten, saß nicht nur der legendäre CBS-Produzent Goddard Lieberson im Auditorium, der bald die Gesamtaufnahme betreuen sollte, sondern auch Dmitri Schostakowitsch, der gerade als Delegationsmitglied der Sowjetunion in New York weilte!

    Die Aufnahme fand dann unter großem Interesse von führenden Künstlern statt, unter anderem fungierte Jenö Léner beratend und Jascha Heifetz war bei mehreren Sitzungen Zaungast. Der berühmte Geiger erwies sich als intimer Kenner von Bartóks Partituren. Robert Mann erinnerte sich später, daß der Heifetz präzise Angaben zu den Temporelationen der einzelnen Sätze des Vierten Streichquartetts machen konnte . . .

    Mann und Hillyer waren dann auch noch bei der Stereo-Aufnahme des Zyklus Mitglieder des Juilliard-Quartets, die von CBS und später durch Sony Classical immer wieder auf CD aufgelegt wurde. Die Mono-Version ist seit 2017 in einer akustisch von Andrew Rose liebevoll aufbereiteten Digitalisierung bei Pristine wieder greifbar, eine Trouvaille, was die heikle Balance zwischen Schönklang und rhythmischer wie harmonische Brisanz anlangt. In der jüngeren Vergangenheit hat das Wiener Alban Berg Quartett eine Digital-Aufnahme der sechs Quartette vorgelegt, die in ihrer - durchaus aus Erfahrungen mit Musik der Wiener Schule geprägten Herangehensweise ebenso hörenswert wie unersetzlich genannt werden darf. Vergessen werden soll nicht, daß ein Ensemble wie das legendäre Budapest String Quartet (in der Besetzung Josef Roismann und Alexander Schneider - Istvàn Ipolyi und Mischa Schneider) bereits 1936 die erste Aufnahme des Streichquartetts Nr. 2 gemacht hat, noch unter den Augen und Ohren des Komponisten und vor allem in der Schluß-Sequenz des dritten Satzes von einer Intensität und Leidenschaft, wie sie kaum ein Ensemble später wieder erreicht haben dürfte.


    DA CAPO