Eines der schönsten Orchesterwerke aus dem - tonalen - Umfeld der Wiener Schule lag für Jahrzehnte im Verborgenen - lediglich ein Bruchteil des Werks war bekannt - und auch der kam erst spät zu Repertoire. Ehren.
Das Autograpph der Tondichtung Die Seejungfrau tauchte 1976 in einer Wiener Privatsammlung auf. Wie unschwer festzustellen war, handelte es sich dabei nur um den ersten Teil der ursprünglich dreiteilig angelegten symphonischen Dichtung. Einer Anmerkung auf dem Manuskript war zu entnehmen, daß weitere Abschnitte der Komposition in der Library of Congress liegen müßten. Bis 1984 dauerte es, daß die Musikwissenschaft eine Spielfassung der drei Sätze dieser »Programmsymphonie« herstellen konnte. 75 Jahre nach der Uraufführung kam das Werk also durch das Österreichische Jugendsinfonieorchester unter Peter Gülke zu seiner Wiederaufführung.
Gülke mußte damals mit einem Faksimile der Originalpartitur das Auslangen finden. Eine kritische Neu-Edition des Werks stand noch lange aus. Denn die Originalpartitur überlieferte dank etlicher Überklebungen und fehlende Manuskriptteile lediglich eine verstümmelte Fassung des Werks.
Außerdem war Zemlinskys Schrift nicht leicht zu entziffern. Die ersten Aufführungen nach der langen Pause mußten also aus einem extrem fehlerhaften Notenmaterial gespielt werden.
Auch ein Kopisten-Exemplar, das sich bei der Universal Edition fand, wies viele Unkorrektheiten auf und überliefert die Partitur stark gekürzt.
Das wachsende Interesse an Musik Zemlinskys führte jedoch dazu, daß die Dirigenten, die sich zu einer Aufführung der Seejungfrau entschlossen, sich an der Fehlersuche und Korrektur beteiligten, sodaß im Lauf der Zeit immer korrekteres Spielmaterial zur Verfügung stand.
Zemlinskys Werk war zunächst zweisätzig geplant. Während der Arbeit, die von Anfang 1902 bis zum März 1903 dauerte, fügte er noch einen dritten Satz hinzu.
Die musikalische Erzählung folgt Szenen aus Hans Ch. Andersens Märchen:
I. »Auf dem Meeresgrund« - aus dunklen Tiefen bis zur Rettung des Prinzen durch die Seejungfrau.
Weit draußen im Meere ist das Wasser so blau wie die Blätter der schönsten Kornblume und so klar wie das reinste Glas. Aber es ist sehr tief, tiefer, als irgendein Ankertau reicht, viele Kirchtürme müßten aufeinander gestellt werden, um vom Boden bis über das Wasser zu reichen. Dort unten wohnt das Meervolk.
Eine jede der kleinen Prinzessinnen hatte ihren kleinen Platz im Garten .. die jüngste machte den ihrigen rund, der Sonne gleich, und hatte Blumen, die rot wie diese schienen. Sie war ein sonderbares Kind, still und nachdenklich, und wenn die andern Schwestern mit den merkwürdigsten Sachen, welche sie von gestrandeten Schiffen erhalten hatten, prunkten, wollte sie außer den rosenroten Blumen, die der Sonne dort oben glichen, nur eine hübsche Marmorstatue haben. Dies war ein herrlicher Knabe, aus weißem, klarem Steine gehauen, der beim Stranden auf den Meeresgrund gekommen war.
»Wenn ihr euer fünfzehntes Jahr erreicht habt,« sagte die Großmutter, »dann sollt ihr die Erlaubnis erhalten, aus dem Meere emporzutauchen, im Mondenscheine auf der Klippe zu sitzen und die großen Schiffe vorbeisegeln zu sehen. Wälder und Städte werdet ihr dann erblicken!« ... Die Sonne war eben untergegangen, als sie den Kopf über das Wasser erhob ... da lag ein großes Schiff mit drei Masten ... da war Musik und Gesang, und als es dunkelte, wurden Hunderte von bunten Laternen angezündet ... Die kleine Seejungfer schwamm bis zum Kajütenfenster, und jedesmal, wenn das Wasser sie emporhob, konnte sie durch die spiegelhellen Fensterscheiben hineinblicken, wo viele geputzte Menschen standen. Aber der schönste war doch der junge Prinz mit den großen, schwarzen Augen, er war sicher nicht viel über sechzehn Jahre alt, es war sein Geburtstag, und deshalb herrschte all diese Pracht.
Nun gingen die Wogen stärker, große Wolken zogen auf, es blitzte in der Ferne. Oh, es wird ein böses Wetter werden! Das große Schiff schaukelte in fliegender Fahrt auf der wilden See, das Wasser erhob sich wie große schwarze Berge, die über die Masten rollen wollten ... Der kleinen Seejungfer dünkte es eine recht lustige Fahrt zu sein, aber so erschien es den Seeleuten nicht, das Schiff knackte und krachte ... die See stürzte in das Schiff hinein, der Mast brach mitten durch, als ob es ein Rohr wäre ... Sie tauchte tief unter das Wasser und stieg wieder hoch zwischen den Wogen empor und gelangte am Ende so zu dem Prinzen hin, der nicht länger in der stürmischen See schwimmen konnte. ... Sie hielt seinen Kopf über das Wasser empor und ließ sich dann mit ihm von den Wogen treiben, wohin sie wollten.
II. Ball im Schloß des Meereskönigs - Begegnung zwischen der Seejungfrau und der Meerhexe.
Mehr und mehr fing sie an, die Menschen zu lieben, mehr und mehr wünschte sie, unter ihnen umherwandeln zu können, deren Welt ihr weit großer zu sein schien als die ihrige.
Da war so vieles, was sie zu wissen wünschte: aber die Schwestern wußten ihr nicht alles zu beantworten, deshalb fragte sie die Großmutter, diese kannte die höhere Welt recht gut, die sie sehr richtig die Länder über dem Meere nannte.
„Wenn die Menschen nicht ertrinken,“ fragte die kleine Seejungfer, „können sie dann ewig leben? Sterben sie nicht, wie wir hier unten im Meere?“
»Ja,« sagte die Alte, »sie müssen auch sterben, und ihre Lebenszeit ist sogar noch kürzer als die unsere. Wir können dreihundert Jahre alt werden, aber wenn wir dann aufhören, hier zu sein, so werden wir nur in Schaum auf dem Wasser verwandelt ... Die Menschen hingegen haben eine Seele, die noch lebt, nachdem der Körper zur Erde geworden ist, sie steigt zu unbekannten, herrlichen Orten auf, die wir nie zu sehen bekommen.«
»Weshalb bekamen wir keine unsterbliche Seele?« fragte die kleine Seejungfer betrübt. »Ich möchte meine Hunderte von Jahren, die ich zu leben habe, dafür geben, um nur einen Tag Mensch zu sein und dann hoffen zu können, Anteil an der himmlischen Welt zu haben.«
»Daran darfst du nicht denken!« sagte die Alte. ... »Nur wenn ein Mensch dich so lieben würde, daß du ihm mehr als Vater und Mutter wärest, wenn er mit all seinem Denken und all seiner Liebe an dir hinge und den Prediger seine rechte Hand in die deinige, mit dem Versprechen der Treue hier und in alle Ewigkeit, legen ließe, dann flöße seine Seele in deinen Körper über, und auch du erhieltest Anteil an der Glückseligkeit der Menschen. ... Aber das kann nie geschehen! ... Laß uns froh sein, hüpfen und springen wollen wir in den dreihundert Jahren, die wir zu leben haben. Heute abend werden wir Hofball haben!«
Das war auch eine Pracht, wie man sie nie auf Erden erblickt. Die Wände und die Decke des großen Tanzsaales waren von dickem, aber durchsichtigem Glase. Mehrere hundert kolossale Muschelschalen, rosenrote und grasgrüne, standen zu jeder Seite in Reihen mit einem blau brennenden Feuer, welches den ganzen Saal erleuchtete und durch die Wände hindurchschien, so daß die See draußen erleuchtet war, man konnte die unzähligen Fische sehen, große und kleine, die gegen die Glasmauern schwammen, auf einigen glänzten die Schuppen purpurrot, auf andern erschienen sie wie Silber und Gold. — Mitten durch den Saal floß ein breiter Strom, und auf diesem tanzten die Meermänner und Meerweibchen zu ihrem eigenen, lieblichen Gesange. So schöne Stimmen haben die Menschen auf der Erde nicht. Die kleine Seejungfer sang am schönsten von ihnen allen, und der ganze Hof applaudierte mit Händen und Schwänzen, und einen Augenblick fühlte sie eine Freude in ihrem Herzen, denn sie wußte, daß sie die schönste Stimme von allen auf der Erde und im Meere hatte!
Aber bald gedachte sie wieder der Welt über sich; sie konnte den hübschen Prinzen und ihren Kummer, daß sie keine unsterbliche Seele wie er besitze, nicht vergessen. Deshalb schlich sie sich aus ihres Vaters Schlosse hinaus, und während alles drinnen Gesang und Frohsinn war, saß sie betrübt in ihrem kleinen Garten. Da hörte sie das Waldhorn durch das Wasser ertönen und dachte: »Alles will ich wagen, um ihn und eine unsterbliche Seele zu gewinnen!«
Nun ging die kleine Seejungfer aus ihrem Garten hinaus nach den brausenden Strudeln, hinter denen die Hexe wohnte.
»Du kommst gerade zur rechten Zeit,« sagte die Hexe, » ich werde dir einen Trank bereiten, dann verschwindet dein Schwanz und schrumpft zu dem, was die Menschen niedliche Beine nennen. Alle, die dich sehen, werden sagen, du seiest das schönste Menschenkind, das sie gesehen hätten. Du behältst deinen schwebenden Gang, keine Tänzerin kann sich so leicht bewegen wie du, aber jeder Schritt, den du machst, ist, als ob du auf scharfe Messer trätest, als ob dein Blut fließen müßte. Willst du alles dieses leiden, so werde ich dir helfen!«
»Aber bedenke, hast du erst menschliche Gestalt bekommen, so kannst du nie wieder eine Seejungfer werden, und gewinnst du des Prinzen Liebe nicht so, daß er um deinetwillen Vater und Mutter vergißt, an dir mit Leib und Seele hängt und den Priester eure Hände ineinander legen läßt, daß ihr Mann und Frau werdet, so bekommst du keine unsterbliche Seele! Am ersten Morgen, nachdem er mit einer andern verheiratet ist, wird dein Herz brechen, und du wirst zu Schaum auf dem Wasser.«
»Aber mich mußt du auch bezahlen, und es ist nicht wenig, was ich verlange. Du hast die schönste Stimme von allen hier auf dem Grunde des Meeres, damit glaubst du wohl, ihn bezaubern zu können, aber die Stimme mußt du mir geben. Das beste, was du besitzest, will ich für meinen köstlichen Trank haben!«
»Aber wenn du meine Stimme nimmst,« sagte die kleine Seejungfer, »was bleibt mir dann übrig?«
»Deine schöne Gestalt, dein schwebender Gang und deine sprechenden Augen, damit kannst du schon ein Menschenherz betören. Nun, hast du den Mut verloren? Strecke deine kleine Zunge hervor, dann schneide ich sie an Zahlungs Statt ab, und du erhältst den kräftigen Trank!«
III. Die Seejungfrau als menschliches Wesen - Seelenqualen, Selbstmord und Verklärung.
Die Sonne war noch nicht aufgegangen, als sie des Prinzen Schloß erblickte und die breite Marmortreppe hinaufstieg. Der Mond schien herrlich klar. Die kleine Seejungfer trank den brennenden, scharfen Trank, und es war, als ging ein zweischneidiges Schwert durch ihren feinen Körper ... aber gerade vor ihr stand der schöne junge Prinz, er heftete seine schwarzen Augen auf sie, so daß sie die ihrigen niederschlug und wahrnahm, daß ihr Fischschwanz fort war und sie die niedlichsten weißen Beine hatte, die nur ein Mädchen haben kann. Aber sie war nackt, deshalb hüllte sie sich in ihr langes Haar ein.
Sie bekam nun herrliche Kleider von Seide und Musselin anzuziehen, im Schlosse war sie die Schönste von allen, aber sie war stumm, konnte weder singen noch sprechen.
Tag für Tag wurde sie dem Prinzen lieber, ... aber sie zu seiner Königin zu machen, kam ihm nicht in den Sinn.
»Liebst du mich nicht am meisten von ihnen allen?« schienen der kleinen Seejungfer Augen zu fragen --
»Ja, du bist mir die liebste, denn du hast das beste Herz von allen und gleichst einem jungen Mädchen, das ich einmal sah -- ich war auf einem Schiffe, welches strandete, die Wellen warfen mich bei einem heiligen Tempel an das Land, wo mehrere junge Mädchen den Dienst verrichteten, die jüngste dort fand mich am Ufer und rettete mein Leben. Sie wäre die einzige, die ich in dieser Welt lieben könnte, aber du gleichst ihr und du verdrängst fast ihr Bild aus meiner Seele.
Aber nun sollte der Prinz sich verheiraten und des Nachbarkönigs schöne Tochter zur Frau bekommen, erzählte man. ... Die kleine Seejungfer war begierig, ihre Schönheit zu sehen, und sie mußte solche anerkennen: eine lieblichere Erscheinung hatte sie noch nie gesehen. Die Haut war fein und klar, und hinter den langen dunklen Augenwimpern lächelten ein Paar schwarzblaue, treue Augen.
„Du bist die!“ sagte der Prinz, „die mich gerettet hat, als ich einer Leiche gleich an der Küste lag!“ Und er drückte seine errötende Braut in seine Arme. „Oh, ich bin allzu glücklich!“ sagte er zur kleinen Seejungfer. „Das Beste, was ich je hoffen durfte, ist mir in Erfüllung gegangen. Du wirst dich über mein Glück freuen, denn du meinst es am besten mit mir von ihnen allen!“ Und die kleine Seejungfer küßte seine Hand, und es kam ihr schon vor, als fühlte sie ihr Herz brechen. Sein Hochzeitsmorgen würde ihr ja den Tod geben und sie in Schaum auf dem Meere verwandeln.
Die kleine Seejungfer legte ihre weißen Arme auf den Schiffsbord und blickte gen Osten nach der Morgenröte: der erste Sonnenstrahl, wußte sie, würde sie töten. Da sah sie ihre Schwestern der Flut entsteigen, die waren bleich wie sie; ihr langes schönes Haar wehte nicht mehr im Winde, es war abgeschnitten.
»Wir haben es der Hexe gegeben, um dir Hilfe bringen zu können, damit du diese Nacht nicht stirbst. Sie hat uns ein Messer gegeben, hier ist es! Siehst du, wie scharf? Bevor die Sonne aufgeht, mußt du es in das Herz des Prinzen stoßen, und wenn dann das warme Blut auf deine Füße spritzt, so wachsen diese in einen Fischschwanz zusammen und du wirst wieder eine Seejungfer, kannst zu uns herabsteigen und lebst deine dreihundert Jahre, bevor du zu totem, salzigem Seeschaume wirst.«
Die kleine Seejungfer zog den Purpurteppich vom Zelte und sah die schöne Braut mit ihrem Haupte an des Prinzen Brust ruhen, und sie bog sich nieder, küßte ihn auf seine schöne Stirn ... das Messer zitterte in der Hand der Seejungfer. — Aber da warf sie es weit hinaus in die Wogen, sie glänzten rot, wo es hinfiel, es sah aus, als keimten Blutstropfen aus dem Wasser auf. Noch einmal sah sie mit halbgebrochenen Blicken auf den Prinzen, stürzte sich vom Schiffe in das Meer hinab und fühlte, wie ihr Körper sich in Schaum auflöste.
Über ihr schwebten Hunderte von durchsichtigen, herrlichen Geschöpfen, ihre Sprache war melodisch, aber so geisterhaft, daß kein menschliches Ohr sie vernehmen, ebenso wie kein irdisches Auge sie erblicken konnte. Die kleine Seejungfer sah, daß sie einen Körper hatte wie diese, der sich mehr und mehr aus dem Schaume erhob.
»Wo komm ich hin?« fragte sie.
»Zu den Töchtern der Luft!« erwiderten die andern. »Die Seejungfer hat keine unsterbliche Seele, wenn sie nicht eines Menschen Liebe gewinnt. Die Töchter der Luft haben auch keine unsterbliche Seele, aber wenn wir dreihundert Jahre lang gestrebt haben, alles Gute, was wir vermögen, zu vollbringen, so erhalten wir eine unsterbliche Seele. Du arme, kleine Seejungfer hast mit ganzem Herzen nach demselben wie wir gestrebt; du hast gelitten und geduldet, hast dich zur Luftgeisterwelt erhoben und kannst nun dir selbst durch gute Werke nach drei Jahrhunderten eine unsterbliche Seele schaffen.«
»Auch können wir noch früher dahin gelangen!« flüsterte eine Tochter der Luft. »Unsichtbar schweben wir in die Häuser der Menschen hinein, wo Kinder sind, und für jeden Tag, an dem wir ein gutes Kind finden, welches seinen Eltern Freude bereitet und deren Liebe verdient, verkürzt Gott unsere Prüfungszeit. Sehen wir aber ein unartiges und böses Kind, so müssen wir Tränen der Trauer vergießen, und jede Träne legt unserer Prüfungszeit einen Tag zu!«