Frédéric (Fryderyk) CHOPIN

Die Balladen

Vier Balladen hat Chopin komponiert, Werke, die bei aller offenkundigen poetischen Idee auch als Auseinandersetzungen mit der klassischen Formgebung gehört werden können.

Ballade Nr. 1 g-Moll op. 23

Es mangelt nicht an Versuchen, den sprechenden Gesten von Chopins Musik konkrete Inhalte zuzuordnen. Im Falle der Ersten Ballade soll Adam Mikiewicz' Versepos über Konrad Wallenrode als Vorlage gedient haben, eine krause Geschichtsfälschung, die in Polen und Litauen heftige patriotische Gefühle provozierte. Wlalenrode war im Spätmittelalter einer der kraftvollsten Führer des Deutschen Ordens und wird von Mikiewicz als Verräter gezeichnet, der seiner litauischen Abstammung gewahr wird und daher bewußt seine Truppen ins Verderben führt, um der litauischen Sache zu nützen. Mikiewicz selbst war tief betroffen von der Wirkung, die sein Epos hatte und zog es offiziell zurück. Doch blieben die Verse fest im Bewußtsein der Polen und Litauer.

Bei Chopins Ballade handelt es sich, musikalisch gesehen, jedenfalls um eine Anverwandlung des klassischen Sonatenprinzips, wobei die beiden Themen in der Reprise in umgekehrter Reihenfolge in Erscheinung treten: das lyrische steht vor dem dramatischen Eingangsmotiv, dessen insitierende Weiterentwicklung einem tragischen Schluß zustrebt. Ob es tatsächlich eine literarische Vorlage für die Komposition gegeben hat, ist zweifelhaft. Sicher ist daß der deutsche Dichter Detlev von Liliencron Chopin Musik zu einem Gedicht namens Ballade in g-Moll inspiriert hat. Von politischer Brisanz ist in diesem Werk allerdings nichts zu bemerken, eher schon handelt es sich um ein Symbol der Auflösungstendenzen der deutschen Romantik in haltlose Schwärmerei. Worin sich die nivellierende Rezeptionsgeschichte von Chopins Musik widerspiegelt . . .

Ballade Nr. 2 F-Dur op. 38

Dieses Werk soll auf einer von Mikiewicz' Berichtet von einem Sturm russischer Soldaten auf eine polnische Stadt beruhen: Die Mädchen dieser Stadt - man mag ihre Portraits im lyrischen Anfangsteil der Ballade vor sich sehen, verwandeln sich angesichts der hereinbrechenden Katastrophe - der wilde Mittelteil (Presto con fuoco)- in Seerosen, um sich dem Zugriff der Eroberer zu entziehen.


Titelblatt des Erstdrucks mit der Widmung

Das Werk ist Robert Schumann gewidmet, der berichtet hat, Chopin hätte ihm die Ballade mit einem Finale in F-Dur vorgespielt. Die Druckausgabe schließt mit einer resignativen Erinnerung an das Anfangs-Thema, aber in a-Moll, der Tonart des stürmischen Mittelteils . . .

Ballade Nr. 3 As-Dur op. 47

Ein Meisterstück rhythmischer Variations- und Vewandlungskunst, soll diese Ballade auf dem Undine-Mythos basieren, den für Polen Adam Mikiewicz poetisch bearbeitet hat (»Świtezianka«). Mikiewicz' Ballade erzählt bilderreich-assoziativ von den ersten erotischen Erfahrungen eines jungen Jägerburschen, dem während der Begegnung mit einem namenlosen Mädchen im Wald Realität und Vision verschwimmen. Die Sprachbilder stecken voll behutsamer Anspielungen auf Jungfernschaft und leidenschaftliche körperliche Erfahrungen. Naturbilder werden zu Symbolen für Phasen des Liebesakts. Während Mikiewicz' Gedicht nach dem ekstatischen Höhepunkt in die Perspektive des Erzählers zurückfindet, mündet Chopins Ballade in eine aufwühlend leidenschaftliche Schluß-Stretta.

Ballade Nr. 4 f-Moll op. 53

Dieses Werk, entstanden 1842, zeigt Chopins Kunst melodischer Entwicklung und Variation, einer sehr persönlichen, beredten Anverwandlung des klassischen Durchführungsprinzips: Es besteht vor allem in der konsequenten Auslotung der Möglichkeiten, die das Hauptthema bietet, das zunächst nach einer improvisatorisch-kadenzartigen Einleitung erscheint, kurz von einem Nebengedanken abgelöst wird, sich dann aber in zahllosen, mehrheitlich lyrisch geprägten Varianten immer weiter vom Ausgangspunkt entfernt und am Ende einem unerwartet dramatischen Eklat zustrebt. Inspiraionsquelle soll eine litauische Legende von einem Brüderpaar gewesen sein, das in fremde Länder ausgeschickt wird, um auf die Suche nach »Marderschwänzen und Silberschleiern« zu gehen. Man glaubt sie längst tot, als sie unerwartet mit einer Braut heimkehren. Wie diese Erzählung mit Chopins Musik zu verknüpfen wäre, bleibt allerdings schwer aufzulösen.



↑DA CAPO