BRAHMS               

Die Streichsextette

Robert Schumanns war in den entscheidenden frühen Jahren der wichtigste Mentor für Johannes Brahms. Wobei der Ältere vor allem die Klaviermusik des Kollegen schätzte und in hymnischen Rezensionen pries. Doch war Brahms auch interessiert, Kammermusik zu komponieren. Unter den Augen von Schumann entsteht das Klavier-Trio in H-Dur, das Brahms - nachdem er frühe Streichquartett-Versuche und einige Klaviertrios, die er Schumann offenbar vorgelegt hatte, vernichtete - für veröffentlichungswürdig hielt. In der Folge sollte wiederum ein Quartett entstehen, das erste, das Brahms nicht vernichtet hat, vor der Publikation aber kräftig bearbeitete: So entstand - zwei Jahrzehnte später - das Klavier-Quartett in c-Moll, das zu seinem Opus 60 wurde.

Fruchtbar wirkte sich die Arbeit als Chorleiter in Detmold aus, wo Brahms 1857 und 1858 Dirigier-Erfahrungen sammelte und mit seinen beiden Serenaden die ersten Orchesterwerke komponierte.

Streicherkammermusik entstand dann während des anschließenden Intermezzos in Göttingen, wo sich der Komponist unsterblich in Agathe von Siebold verliebte - eine Romanze, die unglücklich endete. Unter diesen Auspizien entstand das erste der beiden Streichsextette, vermutlich für den skrupulösen Meister eine Handgelenksübung: zwei Stimmen mehr als ein Streichquartett, jene Form, mit der er ebenso rang wie mit der Symphonie - die klassischen Vorbilder schienen ihm noch unerreichbar. Für das Sextett hingegen kommt höchsten ein ebenso besetztes Werk in C-Dur von Louis Spohr infrage, das 1850 erschienen war.

Nur wenige Jahre später, 1864, ließ Brahms als nächstes Kammermusik-Werk sein zweites Sextett op. 36 folgen. (Es ist nicht das erstemal und weitaus nicht das letztemal, daß solche Zwillingskompositionen entstehen, denken wir an die Serenaden, die ersten beiden Streichquartette oder die späten Streichquintette und Klarinettensonaten).

Auch bei den ersten beiden Symphonien wird es Brahms ähnlich ergehen: Bei der ersten ringt er jarhelang um die Form, die zweite entsteht dann in einem kompositorischen Atemzug. Auch das G-Dur-Sextett wirkt wie ein gelöstes Gegenstück zum ersten Sextett (op. 18): Obwohl Brahms im Opus 36 mit einem Motiv spielt, das die Buchstaben des Namnes der Geliebten enthlt: Agathe wird zu »A-G-A-H-E«. Die Brahms-Literatur fand viele Gründe, die untermauern, daß sich der Komponist hier »von seiner letzten Liebe befreien« wollte.

Was die klassische Formgebung betrifft, findet Brahms in den Sextetten manch fantasievolle Möglichkeiten, sie für sich neu zu definieren. Die »Sonatensatz«-Form hatte noch nicht ausgedient - das sollte sein Schaffen in der Folge noch wiederholt unter Beweis stellen. In den beiden Sextetten finden sich überzeugende Beispiele für deren Lebensfährigkeit. Im ersten Satz des B-Dur-Sextetts findet sich sogar - wie bei Anton Bruckner, dem Antipoden immer - neben Haupt- und Seitensatz ein drittes Thema (in F-Dur), wiewohl in der analytischen Literatur hier des öfteren erst der Seitensatz geortet wird. Das ist typisch für Brahms: Seine Formgebung ist höchst individuell und läßt verschiedene »Deutungen« zu. Jedenfalls ist sie immer spürbar eine Weiterentwicklung traditioneller Vorgaben - und im A-Dur-Thema keine eigenständige thematische Einheit erkennen zu wollen, heißt vielleicht doch, die persönliche Schreibart eines Komponisten mit Gewalt in Richtung altbekannter Schemata deuten zu wollen.

Zumal das - wie gesag, »entspanntere« G-Dur-Sextett dann ja wieder mit den traditionellen zwei Themen auskommt - und das, obwohl die Exposition viel größer dimensioniert ist als im Vorgängerstück!

Die langsamen Sätze sind in beiden Sextetten Variationen. Wobei in op. 18 bereits ein Hang zu einer fantastievollen Ausweitung des gewohnten Variationsschemas nach einem freieren Durchführungsprinzip zu erkennen ist, das in op. 36 noch kühner ausgreifende Gestalt annimmt. Nicht von ungefährt meinte Eduard Hanslick, dieser Satz bestehe aus »Variationen über kein Thema«.

Wirklich diametral entgegengesetzt im Charakter sind die beiden Final-Sätze: Das B-Dur-Werk schließt mit einem gemäßigt-gemütlichen Allegretto-Rondo während das G-Dur-Sextett in ein wahres Furoso mündet. Wie gesagt, es ging vielleicht darum, sich nachhaltig von einer erotischen Fixierung zu befreien . . .

↑DA CAPO