Die Violinsonaten
Die Auseinandersetzung mit klassischen Sonatenform steht am Beginn des Schaffens von Johannes Brahms - mit seinen Klaviersonaten nimmt er kraftvoll die herkulische Aufgabe an, mit dem Vorbild Beethoven zu konkurrieren. Robert Schumann der bald Brahms' Mentor werden sollte, hatte noch 1839 seinen jungen Komponisten-Kollegen empfohlen, die Sonate als »Vehikel« zum Lernen zu nutzen, sie wenig später aber als »altmodisch« denunziert (und selbst lebenslang mit der Form gerungen . . .)Es war Brahms, der auf seine Weise die Sonatenform neu definierte und für seine Zwecke nutzbar machte. Ware die Klaviersonaten das Alpha in seinem Sonaten-Alphabet, so bilden die späten Klarinettensonaten das abschließende Omega. In die Zeit der Arbeit am Violinkonzert fällt die in Pörtschach am Wörthersee komponierte erste der drei Violinsonaten: Dieser sogenannten »Regenlied«-Sonate (op. 78) folgten in dieser Besetzung in den Achtzigerjahren noch die Sonaten op. 100 und op. 108. Wobei nicht nur das erste Werk tatsächlich eine Lieder-Sonate darstellt, die im Finale Brahms' Regelied als Thema nutzt. Auch das Schwesterstück in A-dur (op. 100) durchziehen Liedmelodien: Brahms schrieb sie »in Erwartung der Ankunft einer geliebten Freundin« in der Sommerfrische am Thuner See. Gleich mehrere Liedtitel werden da beziehungsvoll zitiert: »Komm bald«, »Wie Melodien zieht es« und »Meine Liebe ist so grün«.
Zu diesen beiden lyrisch betonten Werken kontrastiert die abschließende d-Moll-Sonate (op. 108) scharf: das dramatisch aufbegehrende, für den Pianisten wie den Geiger hochvirtuose Stück ist alles andere als Musik für den heimeligen Musiksalon. Es strebt ganz unverkennbar nach dem Konzertsaal - der ja in den heute gewohnten Dimensionen zum Zeitpunkt der Komposition noch eine höchst moderne Sache war!
Sonate Nr. 1 G-Dur op. 78
Die erste der drei Violinsonaten entstsand in Pörtschach am Wörthersee in höchst gelöster Stimmung. In einem Brief berichtet Brahms, der gerade auf der Rückreise von einem Italien-Aufenthalt mit seinem Freund Theodor Billroth war, anschaulich von der Sommerfrische, die er in Kärnten vorgefunden hatte:
Ich bin so menschenfreundlich, Dir nichts von Italien zu erzählen - aber erzählen will ich, daß ich hier in ‚Pörtschach am See‘ ausstieg mit der Absicht, den nächsten Tag nach Wien zu fahren. Der erste Tag war so schön, daß ich den zweiten durchaus bleiben mußte – der zweite aber so schön, daß ich fürs erste weiter bleibe. In Italien haben wir den Frühling zum Sommer werden sehen, und hier lebt er noch in den ersten Kindertagen. Es ist entzückend.Die feinsinng-abgeklärte Stimmung des ersten Satzes trügt freilich ein wenig: Im Zentrum des Mittelsatzes findet sich ein - wie sooft bei Brahms aus einer charakterlichen Variation des Grundgedankens geborener - Trauermarsch! Brahms hat eine Abschrift dieser Musik an Clara Schumann geschickt, als deren Sohn Felix gestorben war.
Tatsächlich steht die Musik in unmittelbarem Zusammenhang mit diesem Todesfall! Brahms hatte seinen Patensohn Felix Schumann während der Italienreise mit Freund Billroth besucht: Felix laborierte an der Tuberkulose und weilte zur Kur in Palermo. Billroth, der berühmte Wiener Chirurg, mußte bei einer Untersuchung des Patienten konstatieren, daß keine Hoffnung auf Heilung mehr bestand. Brahms spendete später die 1000 Taler, die er von seinem Verleger Simrock für die Sonate erhalten hatte, dem Fonds der Familie Schumann.
Das Finale der Sonate nimmt zwar den lyrischen Tonfall wieder auf, steht aber in Moll (vergleichbar den Finalsätzen von Brahms' Dritter oder Mendelssohns Italienischer Symphonie, in der es aber keinen Dur-Schluß gibt!). Erst der Schluß der G-Dur-Sonatewirkt dann wieder so friedlich-beschaulich wie der Beginn des Werks . . .
Sonate Nr. 2 A-Dur op. 100
Die Vortagsbezeichnung Allegro amabile, die Brahms über den ersten Satz seiner im schweizerischen Thun komponierten zweiten Violinsonate schrieb, ist selbsterklärend. Folgerichtig nennt Brahms-Biograph Max Kalbeck das Werk »eine Liebes- und Lieder-Sonate«. Der Komponist selbst bekannte, die Sonate »in Erwartung einer lieben Freundin« geschrieben zu haben. Die Musik galt der Sängerin Hermine (»Minna«) Spies, die mit Freunden aus Wiesbaden nach Thun reiste, um Brahms zu besuchen. Dieser Sommer 1886 war der»Kammermusiksommer« währenddessen auch die zweite Cellosonate und das c-Moll-Klaviertrio entstanden. Auch die ersten Gedanken zur dirtten Violinsonate notierte Brahms damals.
In Erwartung von Minna schrieb Brahms zunächst zwei neue Lieder, die er bei der Ankunft der Sängerin aufs Klavier legte. Die A-Dur-Violinsonate hängt eng mit diesen Liedern zusammen. Hermines Schwester berichtet:
Ein Spätsommertag war’s. Die Nachmittagssonne stand vor ihrem Untergange und strahlte golden über die Wasser und durch die geöffneten Fenster zu uns herein. Die Blumengehänge, die über die Ufer des Sees herabfielen, wurden zu neuen glutvollen Farben erweckt und sandten ihren Duft herüber. Hermine sang dazu. Zwei neue, noch ungedruckte Lieder lagen auf dem Notenpult des Flügels, ‚Immer leiser wird mein Schlummer‘ und ‚Wie Melodien zieht es‘. Brahms begleitete.Das Haupttthemen des ersten Satzes bergen mit den beiden Liedmelodien, die Brahms darin verarbeitet, das heimliche Motto der Sonate. Auf die Eingagsmelodie mit dem Zitat des Komm bald (op. 97/5)folgt eine Variante des Liedes op. 105/1
Wie Melodien zieht esSo „blüht es und schwebt“ in dieser Sonate wie nirgendwo sonst in der romantischen Violinliteratur! Ob die Anklängen an Walther von Stolzings Preislied aus Wagners »Meistersingern von Nürnberg« zufällig sind, bleibe dahingestellt. Jedenfalls trübt nur ein Triolenmotiv am Ende der Exposition die Stimmung dieses lichtdurchfluteten Satzes ein wenig - aber nicht nachhaltig.
Mir leise durch den Sinn,
Wie Frühlingsblumen blüht es
Und schwebt wie Duft dahin.
Liedhaft tönt auch der F-Dur-Mittelsatz im Wechselspiel mit einem mehrfach wiederkehrenden Scherzando (Vivace), das zwar in Moll gehalten ist, aber keineswegs mürrisch oder melancholisch klingt. Brahms' Freund Heinrich von Herzogenberg sprach angesichts dieser Kontrastwirkung davon daß in diesem Fall
die Braut ihren Bräutigam, einen munter-traurigen Norweger, gleich mitgebrachthätte.
Die Hereinnahme des raschen Gegenthemas ins Andante ermöglicht es Brahms dramaturgisch, das Finale in diesem Fall rughig zu halten. So schließt die Sonate mit einem Allegretto, das beinah improvisatorisch selbstvergessene Züge annimmt. Als wollte die Musik den Ausklang des lauen Sommerabend nicht stören.
Entsprechend verstohlen kam die Sonate auch zur Uraufführung: nämlich im privaten Kreis am Thuner See. Öffentlich spielte Brahms das Werk selbst mit dem Quartett-Primarius und Hofkapellmeister Joseph Hellmesberger Ende des Jahres 1886 im Wiener Musikverein.
Sonate Nr. 3 d-Moll op. 108
Die d-Moll-Sonate wurzelt in jenem Kammermusik-Sommer des Jahres 1886 am Thuner See, in dem auch die A-Dur-Sonate, die zweite der beiden Cellosonaten und das Klaviertrio Nr. 3 entstanden. Mit der Vollendung der Violinsonate hat sich Brahms aber zwei Jahre Zeit gelassen. Sie wurde zu einer musikalischen Brücke zu seinem Spätstil, ist auch für beide Interpreten virtuoser, größer angelegt als die beiden Vorgänger-Werke in derselben Besetzung. Die d-Moll-Sonate ist interessanterweise auch keinem Geiger, sondern einem Pianisten (und Dirigenten) gewidmet, nämlich Hans von Bülow. Entsprechend anspruchsvoll ist diesmal auch der Klavierpart gestaltet, mit dem die Solovioline in einer konzeranten Wettstreit treten kann. Dieser Zug zum Volltönenden hat diesem Werk die Vorrangstellung unter den drei Violinsonaten von Brahms gesichert. Sie erklingt am häufigsten in den Konzertsälen. Der lyrische Grundton der beiden anderen Violinsonaten weicht hier vor allem im Kopfsatz einem glühend leidenschaftlich, dramatischen Gestus. Wobei die immer wieder anklingenden magyarischen Töne vielleicht auch mit der Tatsache zu tun haben, daß Brahms die Sonate mit dem Gedanken an den Interpreten Jenö Hubay verfaßte, mit dem er das Werk im Dezember 1888 auch in Budapest zur Uraufführung brachte.
Die dramatische, hie und da beinahe sinistre Stimmung des einleitenden Allegros erfährt lediglich durch das Auftreten des lyrischen Seitenthemas kurzfristige Aufhellungen. Erst das Adagio, das auch ein Zitat aus Braghms' eigenem Violinkonzert bringt, sorgt in seiner Liedhaftigkeit für Beruhigung. Dem Intermezzo in fis-Moll folgt als Finale eine Tour de Force, die an den stürmischen Tonfall des Kopfsatzes wieder anknüpft, ihn sogar noch übersteigert. Elisabeth von Herzogenberg, eine sensible Kritikerin, der Brahms in seinen späten Jahren vertraut hat, bemerkte dazu in Anspielung auf ein Gemälde Gido Renis:
Es hat das, was das Finale vor allem braucht: fortstürmenden Zug im höchsten Maße. Wie die Rosse der Aurora auf jenem herrlichen Bilde stürmt es dahin, und man ruht erst aus bei dem so beschwichtigenden feierlich schönen zweiten Thema.
Guido Reni: »Aurora«