»Matthäuspassion«
Als Johann Sebastian Bach das Amt des Thomaskantors zu Leipzig übernahm, war die Tradition, die Karfreitagsliturgie als Vespergottesdienst mit Orchester und Chor musizierend zu gestalten, gerade erst geboren worden. 1721 hatte unter Bachs Vorgänger Kuhnau erstmals eine solche musikalische Vorstellung des Evangelientextes stattgefunden. Statt den Passions-Text mit verteilten Rolle zu rezitieren, ließ man ihn singen - eine ausführliche Predigt unterbrach die musikalische Darbietung. Sie war das Zentrum der Vesper.Bach hatte sein Amt 1723 mit der Aufführung einiger Kantaten und mit der noch in Köthen für diesen Zweck kompnierten Johannes-Passion (also noch vor seinem offiziellen Amtsantritt im Juni) begonnen. Offenbar war 1729 wieder die Passionsaufführung in der Bach unterstellten Thomaskirdie »fällig«. So entstand ab 1728 in einem ausführlichen Arbeitsprozeß die zweite große Passionsmusik Bachs, die uns erhalten geblieben ist - und die ein Gipfelwerk der abendländischen Kulturgeschichte werden sollte.
Der Komponist arbeitete damals schon seit geraumer Zeit mit dem »Ober-Post-Commlssarius« Christian Fr.iedrich Henrici (genannt Picander) zusammen. Picander lieferte den »Text zur Passions-Musik nach dem Evangelisten Matthäus«, zu dem der liturgisch bewanderte Bach noch passende Choralmelodien samt den zugehörigen Texten auswählte und an bestimmten Stellen von Plcanderschen Libretto einsetzte.
Am 15. März 1729 erklang die Matthäus-Passion in ihrer ersten Fassung zum ersten Mal. Das Werk verdankt seine schon im äußerlichen Aufwand bemerkenswerte Struktur dem Umstand, daß Bach in Leipzig über zwei Chorgruppen, sowie in der Thomaskirche auch über zwei aus dem 16. Jahrhundert stammende Orgeln verfügen konnte. Das inspirierte ihn dazu, sein Werk für Doppelchor und Doppelorchester zu setzen, was den monumentalen Charakter der Komposition bedingt. Chöre und Gesangsolisten stellten Bachs SchüIer; die Orchester bildeten neben Schülern und Studenten auch die Mitgliedern des Leipziger Collegium Musicum und die Stadtmusikanten.
Der Komponist selbst war sich der Ausnahmestellung seines Werks bewußt und nahm sich die Partitur immer wieder vor. Aufführungen, teilweise mit neu komponierten Arien und Chören sind 1736, 1739 und 1745 nachgewiesen. Die Fassung von 1745 hinterließ der Komponist der Nachwelt in einem prachtvollen Manuskript, in die er die Bibelworte mit roter Tinte eintrug.
Die Formenwelt
Textliche Formgebung
Bachs Matthäuspassion ist in ihrer Formgebung ein gigantischer »Kommentar« zum biblischen Passionbericht, wie ihn der Evangelist Matthäus überliefert (Kap. 26-27). Picanders Text gliedert diesen in einzelne Episoden, die durch 28 eingefügte Gedicht-Strophen gegliedert wird: Fromme Betrachtungen des Christenmenschen bei der Betrachtung derStationen des Leidensweges seines Erlösers. Diese kontemplativen Inseln bereichert Bach noch durch 14 Strophen aus protestantischen Chorälen: So kommt die Gemeinde kommentierend und »mitleidend« ins Spiel.Die Musik
Der Evangelientext wird in Form eines Rezitativs vertont: Der Evangelist (Tenor) deklamiert klar und verständlich, nicht ohne emotionelle Zwischentöne, wenn besonders bewegende Momente musikalisch zu charakterisieren sind. Der Ambitus reicht vom schlichten Erzählton zum schmerzlich verzerrten Melisma im Bericht von der Verleugnung des Petrus (»und weinete bitterlich«). Bei Schilderungen von Naturereignissen, vor allem des Erdbebens nach Jesu Tod, gerät auch die Instrumentalbegleitung in heftige Bewegung.Tönender »Heiligenschein«
Vom Evangelisten deutlich abgehoben sind - anders als in der Johannespassion die Worte des Christus, die durchwegs von einem Akkord-Flor des Streicherensembles umgeben sind, den man mit einem akustischen »Heiligenschein« verglichen hat.Individuen
Individuelle Stimmen (Petrus, Pilatus, Judas, die »Zeugen« etc.) werden von solistischen Chormitgliedern in verschiedenen Stimmlagen übernommen. Starke Gliederugseffekte erreicht Bach durch die zwischendurch oft heftig hereinbrechenden Massenchöre: der Chor der Jünger und Volkes Stimme erklingen in komplexen kontrapunktischen Sätzen oder mächtigen Ballungen - von unvergleichlichem Effekt ist das dissonante »Barrabam!« während des Pilatus-Prozesses: Hier genügen wenige Sekunden, um die Brisanzund Ausweglosigkeit der Situation drastisch zu verlebendigen. Von den 19 der sogenannten »Turbae«, die dem Werk höchste Dramatik bescheren, ist dies der kürzeste und gleichzeitig der erschütterndste - in seiner emotionalen Wirkung auf den Hörer hat er nur ein Gegenbild in der Matthäuspassion: den Eintritt des still-bittenden Chorals Wenn ich einmal soll scheiden, der unmittelbar dem Tod des Heilands antwortet.Die Arien
Ungemein vilefältig ist auch die formale Welt der betrachtenden Rezitativs und Arien zu Picanders erbaulichen Versen. Vom Secco-Rezitativ reicht der Bogen der Möglichkeiten hier bis zur komplexen Duett-Szene mit Choreinwürfen. Wobei die betrachtenden und weiterführenden Gedanken für spätere Generationen oft quer zu stehen scheinen zum tragischen Geschehen - wenn etwa der Sopran nach der Abendmahlsszene dem Rezitativ (»Wiewohl mein Herz in Tränen schwimmt«) das fröhliche (»Ich will dir mein Herze schenken«) folgen läßt. Nikolaus Harnoncourt hat darauf hingewiesen, daß gerade diese kontemplativen Einschübe den Gedanken verstärken, daß es sich beim Evangelium ja um eine »Frohbotschaft« handelt und die christliche Seele der Erösung zugeführt wird. Aus diesem Grundgdanken heraus erklärte der Dirigent auch den tänzerischen Rhythmus des gewaltigen Eingangschors als Grundlage für den &rraquo;Klagechor« der Töchter Zions - und bot eine Erklärung für die Frage, ob die romantische Interpretationsgeschichte diese Musik nicht stets zu langsam, zu schwerblütig hören ließ.So ergeben sich oft unerwartete extreme Kontrastwirkungen - wenn etwa in den aufgewühlten Momenten des Pilatus-Prozesses das vollkommen verklärte, glaubendgewisse »Aus Liebe will mein Heiland sterben« eine Insel der Ruhe und Besinnung schafft.
Spätestens in den scheinbar unkontrollierten Einwürfen der Gläubigen (»Laßt ihn, haltete, bindet nicht!« in die Klagerufe der »Tochter Zion« (»So ist mein Jesus nun gefangen«) wird verständlich, warum manches Mitglied des Leizpiger Rates dem Thomaskantor empfahl, die Musik für die Kirche möge
nicht zu opernhafftig herauskommen!Hier erweist sich tatsächlich das immenss musiktheatralische Potential Bachs, der nie eine Oper komponiert hat.