»Matthäuspassion«


Ausschnitt der ersten Seite des Autographs

Anmerkungen zur »Großen Passion« aus dem Blickwinkel der jüngeren Wiener Aufführungsgeschichte.

Harnoncourts Landnahme

Die vielleicht aufregendste Wiedergabe der Matthäuspassion der vergangenen Jahrzehnte gelang dem österreichischen Originalklang-Pionier Nikolaus Harnoncourt Anfang der Achtzigerjahre im Konzerthaus – am Pult des sonst eher für Mahler- oder Beethoven-Wiedergaben gerühmten Concertgebouw Orchesters. Wer da meint diese Sternstunde wäre ohnehin dokumentiert, denn auf CD und LP erschien damals der Mitschnitt einer der Aufführungen auf dieser Tournee, der irrt: Hätte Teldec doch die Wiener Aufführung mitgeschnitten und nicht das weit weniger gelungene »Heimspiel« in Amsterdam. Was wäre das für ein Dokument geworden!

Auch ein Mitschnitt der Johannes-Passion vom Jahr davor aus dem Musikverein wäre ein Desideratum – der stürmische Einsatz zur Tenor-Arie im Ausklang des ersten Teils galt damals geradezu als Signal für den Anbruch einer neuen Bach-Zeit: die Landnahme des Concentus Musicus.

Die Ära Karl Richters

Wer in den Jahren davor in Wien zum Musikfreund sozialisiert worden war, hatte ja wirklich so etwas wie eine Bach-Tradition erlebt. Wenn er Bach sagte, mußte er auch Richter sagen. Karl Richter. Der präsentierte die Passionen alternierend zum liturgisch richtigen Zeitpunkt. Ihn hatte man bereits als Erneuerer gefeiert, erinnerte sich aber gern an den Krieg der primi uomini, der Anfang der Fünfzigerjahre zum Bruch zwischen der Gesellschaft der Musikfreunde und dem unangefochten begehrtesten Dirigenten, Wilhelm Furtwängler geführt hatte.

Karajan gegen Furtwängler

Wilhelm Furtwänglers Brief an Gottfried von Einem verrät viel über verletzte Eitelkeit:
Über das Ergebnis meiner Affaire mit der Gesellschaft dürfen Sie beruhigt sein. Der ,Bruch‘ ist vollzogen und solange dieselben Leute am Ruder sind nicht mehr reparierbar.
Zum Bach-Jahr 1950 hatte der Musikverein Aufführungen der Hohen Messe und der Matthäus-Passion vorbereitet – Furtwängler sollte die Passion leiten, Herbert von Karajan die Messe. Furtwängler winkte ab – Karajan, den der ältere Kollege haßte, übernahm beide. Nach erfolgter Einstudierung in legendären Probensitzungen mit dem Singverein überlegte es sich Furtwängler; aber da war's zu spät. Die Philharmoniker entschieden sich zwar für den großen alten Mann, der Chor aber blieb – lebenslänglich (!) – auf Karajans Seite.

Stilwandel

Heraus kamen für das Wiener Musikleben höchst fruchtbare »Dialoge«: Furtwängler dirigierte die MatthäusPassion 1952 und 1954 – im Konzerthaus. Letztere Aufführung war besonders spannend, denn wenige Monate zuvor hatte Karajan das Werk wieder einstudiert – im Musikverein:
Was der große Chor des Singvereins leistete, macht diesen Abend allein schon unvergeßlich,
hieß es in einer Rezensenion.

Karajan feierte man damals als den Meister des schlanken, schlicht: modernen Bach. 1977 mußte sich derselbe Dirigent vom Rezensenten der Welt sagen lassen, seine Matthäuspassion anläßlich der Osterfestspiele Salzburg käme »in Pantoffeln« daher und sei »durchweg von keinem Stilwillen angekränkelt«. Es war das Jahr, in dem Karl Richter letztmals die österliche Passion im Musikverein dirigierte. Eine neue Zeit war angebrochen. Ein anderer Bach »modern« geworden.


Was sagt das Tempo aus?

Anmerkungen zur Aufführungsdauer des Eingangschors Kommt, ihr Töchter bei verschiedenen Dirigenten.


Otto Klemperer nimmt sich für den Einleitungschor auf der legendären EMI-Einspielung 11 Minuten und 47 Sekunden Zeit.

Bei Karl Richter dauerte der Chor 9:52.

Herbert von Karajan braucht für dieselbe Musik 9:21 Minuten.

Wilhelm Furtwängler war 1954 um mehr als eine Minute rascher als der »Intimfeind«: 8:07

Peter Schreier und der traditionsreiche Kreuzchor brauchen 7:50.

John Eliot Gardiner dirigiert ihn in 6 Minuten und 57 Sekunden.

Paul McCreesh hält den Rekord mit 6:05.







↑DA CAPO