ER „GANZE BACH“ AUF 222 CDs
Die Wahl des Jubiläums mag eigenwillig sein; die Fülle des Gebotenen überzeugt jedenfalls: Wer sich mit der Musik Johann Sebastian Bachs auseinandersetzen möchte, bekam im Herbst 2018 in repräsentativer Aufmachung samt dazugehöriger Lektüre das Material zur Verfügung.
Universal hat unter Federführung der Deutschen Grammophon den riesigen Quader herausgebracht – in limitierter Auflage. 8500 Exemplare wurden in den internationalen Handel gebracht.
Der „ganze Bach“?
Das hat es in ähnlichem Umfang mit einem eigens dafür angefertigten CD-Regal bereits bei Hänssler gegeben – zu einem runden Bachjubiläum (1985) und unter der Patronanz von Helmut Rilling, dessen Kantaten-Gesamtaufnahme den Kern des Unternehmens bildete.
Etwas weniger einheitlich präsentiert sich die Universal-Box, die dafür großzügiger ausgestattet ist und von konsequenter editorischer Linienführung.
Die Gesamtaufnahme konstituiert sich nämlich ausschließlich aus Interpretationen, die man im modernen Sprachgebrauch als „historisch informiert“ bezeichnet. Hinzu kommen freilich für nahezu alle zentralen Werke „alternative“ historische Einspielungen, die den Wandel des Bach-Stils der vergangenen Jahrzehnte spätestens seit Beginn des Langspielplattenzeitalters dokumentieren. Wer mag, kann also innerhalb der Edition auch Vergleiche anstellen.
Im Wesentlichen aber kann er sich durch Bachs immenses Schaffen ackern – und dabei geht es weniger darum, das „Wohltemperierte Klavier“ nicht nur von Kenneth Gilbert auf dem Cembalo, sondern auch von so unterschiedlichen Pianisten wie András Schiff und Maurizio Pollini auf dem modernen Flügel zu hören, sondern viel eher um das Kennenlernen von Musik, die im Konzertbetrieb kaum Chancen hat, auf die Programme gesetzt zu werden.Das Phänomen Bach erschließt sich ganz erst einem Musikfreund, der seine Aufmerksamkeit von der „Matthäuspassion“, den „Brandenburgischen Konzerten“ und den Klavier-, Violin- und Cellosuiten und Sonaten auf die kaum je gespielten Stücke lenkt, die voll von fesselnden, überraschenden, berührenden Momenten sind.
Man weiß, dass dieser Komponist Jahre damit verbracht hat, Woche für Woche eine neue Kirchenkantate zu schreiben.
Man kennt die anekdotisch überlieferten Vorgeschichten von bedeutenden zyklischen Werken wie dem „Musikalischen Opfer“ und die Rätselfragen um bis heute nicht geklärte Hintergründe zu einer der Gipfelleistungen des europäischen Geistes namens „Die Kunst der Fuge“ – aber man braucht vielleicht eine luxuriöse Initialzündung wie diese imposante CD-Edition, um zumindest einmal den Versuch zu starten, auch den unbekannten Bach für sich zu entdecken.
Der staunende Musikfreund, der seit einigen Wochen mit diesem nicht nur körperlich als Koloss zu bezeichnenden Konvolut lebt, ist sich jedenfalls nach unzähligen Stichproben ziemlich sicher, dass es unter den 222 CDs vermutlich keine einzige gibt, die nicht ein, zwei, drei, viele Aha-Erlebnisse bereithält, Hörabenteuer harmonischer, melodischer, rhythmischer und dramaturgischer Natur, aparte, teilweise betörend schöne Mixturen von Instrumentalfarben – und was immer aufhorchen lässt, besingt die höhere Ehre Gottes; im Fall der geistlichen Musik ganz offenkundig; dort, wo es keinen Text gibt, der das verraten könnte, in der Instrumentalmusik, nicht weniger glaubwürdig.
Wer diese Musik hört und angesichts einer solchen Edition im größeren Zusammenhang zu begreifen versucht, glaubt des Komponisten konsequenter Anmerkung in sämtlichen seiner Partituren: Soli Deo Gloria.Die von John Eliot Gardiner gestaltete Videodokumentation dient hier als letzte Bestätigung: Sie gilt einem lebensfrohen, kraftvollen, höchst streitbaren Mann, der freilich seinen Prinzipien stets treu geblieben ist.
Pointe am Rande: Der Kantatenzyklus, den Gardiner einst unter den Fittichen der Deutschen Grammophon begann und dann aufgrund der Weigerung der Firma in Eigenregie (auf einem Label namens Soli Deo Gloria) fortsetzen musste, kehrt nun unter das gelbe Banner heim: Gardiners Aufnahmen bilden nebst den schlanken, solistisch besetzten Einspielungen Masaaki Suzukis und den holzschnittartig kargen von Ton Koopman den Stamm dieses Bach-Kaleidophons, dem als – nicht unwesentliches – Aperçu auch noch zahlreiche Beispiele für das „Nachleben“ dieser Musik beigegeben sind: Bach-Arrangements von Busoni und Stokowski bis hin zu Jazz und Pop.
Mag sein, dass die Kinder- und Enkelgeneration den „Alten Bach“ vergessen hatte; aber schon für Beethoven war dieses Genie ein Reibebaum; und spätestens seit Mendelssohn ist Bach gebieterisch präsent in den Köpfen der schöpferischen wie der nachschöpferischen Musikanten: der Übervater. Wir dürfen sicher sein, es wird noch „Bach 666“ zelebriert werden, die Frage ist nur, in welcher medialen Gestalt sich das Leben mit Bach dann manifestieren wird.
Anno 2018 ist es eine Art von auffälligem Möbelstück fürs Wohnzimmer geworden.