Grigorij Sokolow

Der Pianist in einem seiner raren Interviews

Etüde über einen Klavier-Exzentriker

1995

Schon bei seinen ersten Auftritten im Wiener Musikverein (mit Saint-Saens und Tschaikowsky) war vieles an Grigori Sokolovs Auftreten ungewöhnlich. Was damals wie heute fasziniert: die Konzentration und Unerbittlichkeit, mit der dieser Pianist jegliches Repertoire zwischen barocken Clavecin-Piecen (hie und da sogar noch älterer Musik) und spätromantischer Klangmalerei bewältigt und dadurch immer sein Publikum in Bann zu schlagen versteht.

Im Jahr 1995, auf dem Weg zu seinem ganz persönlichen Auftritts-Zeremoniell, das jegliche Anbiederung an Konzertsaal-Gewohnheiten hinter sich lässt, gab der Pianist der "Presse" sogar eines seiner raren Interviews.

Wiens Klaviermusik-Freunde kannten zu diesem Zeitpunkt vor allem Sokolovs CD-Aufnahmen (damals exklusiv auf dem engagierten Label "Opus 111" erschienen). Sie verrieten das zupackende Talent, das sich Bach, Beethoven oder Chopin gleichermaßen unverkrampft näherte: "Ich weiß", meint der sympathisch uneitle Künstler aus St. Petersburg damals, "daß viele sagen, man könne heute Bach nicht mehr auf dem Klavier spielen. Aber das ist nicht das Problem. Es stimmt, daß Bach nicht für einen modernen Konzertflügel geschrieben hat. Nur: Chopin hat auch nicht für dieses Klavier komponiert. Das gibt es erst seit 70, 80 Jahren. Die Frage ist nur, ob wir um die Zeitumstände wissen, in denen eine Musik entstanden ist. Und daß wir uns ihr dann als Persönlichkeiten nähern. Es sind ja auch andere Säle, andere Menschen. Ich habe noch viel ältere Musik auf dem Klavier gespielt. Leonin etwa – ,Haec dies'. War sehr erfolgreich".

Der kraftvolle Rachmaninow-Spieler als Exeget von Klängen, die 750 und mehr Jahre alt sind!

"Ich spiele alles, was ich liebe", völlig unbekanntes Repertoire, aber auch das vielgeschundene Erste Tschaikowsky-Klavierkonzert: "Sie müssen auch an das Tschaikowsky-Konzert herangehen, als wäre es völlig neu", verriet Sokolow, "sie müssen an alles herangehen, als wäre es ein völlig neues Werk".

Diese Spontaneität hat Sokolow, der schon als Vierjähriger zu Schallplattenklängen dirigierte – "ich habe die umgekehrte Karriere gemacht wie meine dirigierenden Kollegen" – nie verlassen. Die Frage, wer für die Interpretation eines Klavierkonzerts wichtiger sei, Pianist oder Dirigent, war für Sokolow schon damals längst entschieden: "Einer muß führen. Im Konzert ist es der Pianist."

CD-Produktionen, live

Mittlerweile hat er seinen ganz persönlichen Stil gefunden. Wie einst auch Alfred Brendel studiert er jeweils ein Programm ein und absolviert dieses dann in allen großen Konzertsälen der Welt; nicht einmal für Festspiele macht er da eine Ausnahme. Alle, die Sokolov buchen, bekommen innerhalb einer bestimmten Periode dasselbe Programm serviert.
So wissen Besucher aus Rezensionen früherer Abende der jeweiligen Tournee dann auch immer schon, welche Zugaben der Pianist diesmal zu geben geneigt ist. So kann bei der "Verwertung" eines Sokolov-Programms auf CD ein Teil des Livemitschnitts aus Salzburg stammen, ein anderer aus Warschau. So geschehen bei "Sokolov live 2013".

Gleich viel, man hört auf dieser CD, die als beispielgebend für Sokolovs Kunst gelten darf, Schuberts Impromptus op. 90 und die Klavierstücke D 946, aber auch Beethovens „Hammerklaviersonate“ mit höchster Spannung, denn wie immer fesselt Sokolovs Spiel vom ersten Takt an, diesfalls dem einsam hingesetzten G, mit dem Schubert seine Seelenprotokolle beginnt.

Sokolov nimmt sich Zeit, die erzählerischen Details dieser Musik mit vielen kleinen Verzögerungen und innehaltenden Momenten auszukosten, setzt erstaunliche Akzente, indem er beispielsweise das Es-Dur-Impromptu betont non-legato spielt, wovon sich das breit strömende nachfolgende Ges-Dur-Stück wunderbar abhebt. Die bohrende Intensität mancher Augenblick im ersten der drei nachgelassenen Klavierstücke setzt Sokolov wiederum in Gegensatz zu manchen völlig frei, improvisatorisch wirkenden Passagen: In einem Augenblick meint man beinah, einem einsamen Zymbalspieler in der Puszta zu lauschen, der ganz in sich versunken, wie absichtslos auf seinem Instrument tremoliert. Freizügiger, also vielleicht „richtiger“ kann man mit den Schubertschen Klangbotschaften gar nicht umgehen.

Dem steht Beethovens gigantische „Hammerklaviersonate“ gegenüber, das kühnste Experiment mit der Sonatenform (jedenfalls aus klassischer Zeit, vielleicht aber sogar Liszt inklusive . . .), das Sokolov bei ähnlichem klanglichem Reichtum doch gefasst, fukussiert realisiert.

Die berüchtigten Eingangstakte im vorgegebenen rasenden Tempo zu realiseren, versucht er erst gar nicht. Dafür stehen dank artikulatorischer Finesse die Themen als gegensätzliche Bauelemente der Form in scharfer Klang-Konfrontation gegeneinander; aus den daraus resultierenden Spannungen erwächst das Drama, in dessen Zentrum der bis heute unfassbare fis-Moll satz steht, das Adagio, in dem die Zeit still zu stehen scheint.
Obwohl, oder vielleicht gerade weil Sokolov hier so schlicht, so holzschnittartig wie möglich spielt.

Die Final-Fuge klingt so verrückt, so "ver-rückt" wie sie nicht nur für die Zeitgenossen Beethovens gewirkt haben muss. G’scheiter ist die Menschheit ja inzwischen nicht geworden. Als wollte er das unterstreichen, kontert Sokolov vor einem melancholischen, abschließenden Brahms-Intermezzo (op. 117/2) mit fünf der Klavier-Piecen von Rameau: Wirklich Apartes gelang nicht erst Ludwig van Beethoven...

↑DA CAPO