Bruno Walter

eigentlich: Bruno Walter Schlesinger

„Klassisch“ – was soll das schon heißen?

Über den Dirigenten Bruno Walter (anläßlich der Neuedition der Aufnahmen für CBS aus dem amerikanischen Exil). Das Wiederhören ist geradezu irritierend aufregend.

Bruno Walter? Das war doch der freundliche alte Herr, der in TV-Interviews so verbindlich über Mozart und Brahms plauderte und keiner Fliege etwas zu Leide tun konnte. Wenn er bei der Probe ruhig und sanft sagte: „Ich bin noch nicht ganz glücklich“, nannten die Musiker das seinen »Wutanfall«.

Sie spielten damit auf den Heißsporn Arturo Toscanini an, der zur nämlichen Zeit schon einmal schreiend einen Taktstock zerbrach, wenn die Kontrabässe nicht genau im Rhythmus spielten.

Das Wiederhören von Bruno Walters Aufnahmen in der technisch deutlich liebevoller als für frühere CD-Ausgaben renovierten Neuauflage macht schon nach kurzer Frist deutlich: Walters Interpretationen sind kein Jota weniger genau – und vor allem: nicht weniger aufregend oder dramatisch als die des italienischen Berserkers.

Einige Probenmitschnitte findet man unter den 77 CDs auch, die hören lassen, dass dieser Künstler tatsächlich stets höflich und besonnen am Werk war, aber in der Sache nicht weniger unnachgiebig als Toscanini. Er konnte manche Passage bis zur Erschöpfung wiederholen lassen, damit sie so klang, wie er sie haben wollte.

Vom Geist der Spontaneität

Wer seine Schallplatten dann auflegte, bekamt alles zu hören, nur keine Interpretation, die nach zäher Vorbereitungsarbeit klang.
In den meisten Fällen staunt man heute noch über den Geist der Spontaneität, den Walters Musizieren atmet. Selbst in diesen späten Studioproduktionen fühlt man, was Kenner an den illegalen Livemitschnitten schätzen, die von Radioübertragungen seiner Opernvorstellungen in den Handel kamen.
Man muß nur die – von etlichen Streamingdiensten angebotenen, weil mittlerweile rechtefreien – Mitschnitte von Aufführungen des Fidelio oder mancher Verdi-Opern aus der Metropolitan Opera hören, um zu ahnen, was es bedeutete, wenn dieser Mann am Dirigentenpult erschien. Die Ouvertüre zur Macht des Schicksals beispielsweise (1943 mitgeschnitten) zählt zu den zündendsten Verdi-Aufnahmen überhaupt.

Ob da etwas von dem Feueratem mitschwingt, der die Auftritte von Walters Mentor Gustav Mahler so legendär werden ließ?
Mahler schätzte den jüngeren Kollegen jedenfalls sehr – und Walter wurde nach des Komponisten Tod zu seinem effektivsten Anwalt.
Die neue Sony-Box enthält auch alle kommerziellen Mahler-Einspielungen Walters, allen voran die erste Aufnahme der Fünften Symphonie in der Geschichte. Sie entstand 1947 und entlarvt gleich liebgewordene Hörgewohnheiten als aufführungshistorische Verkitschungen: Für das berühmte »Adagietto« braucht Walter – wie Mahler einst selbst – gerade einmal siebeneinhalb Minuten. (Noch schneller schafft diesen Satz - ebenfalls ohne dramaturgischen Substanzverlust - lediglich → Willem Mengelberg!) Bei Leonard Bernstein und den Wiener Philharmonikern dauert das »Adagietto« mehr als elf Minuten, weicht also um gut 50 Prozent ab. Ganz abgesehen von Dirigenten wie Bernard Haitink, der doppelt so lang wie Walter braucht.

Was da noch in der Toleranz-Grenze liegt, was nicht, muss jeder Hörer für sich entscheiden. Jedenfalls waren für Bernstein Walters Mahler-Interpretationen so respektgebietend, dass er eine Zeitlang zurückscheute, Mahlers Erste aufzunehmen, nachdem er die Bänder der Stereo-Aufnahme Walters von 1961 gehört hatte.
Sie klingt im Übrigen bis heute nicht weniger jugendlich-stürmisch als die Mono-Version von 1954. Inzwischen stand Walter nicht mehr New York Philharmonic, sondern ein vorrangig aus Musikern von Los Angeles Philharmonic gebildetes Ensemble zur Verfügung, mit dem nahe seinem Heim an der Westküste der Großteil der vorliegenden Aufnahmen gemacht wurden.

Zügige Tempi und Ausdruckswut

Faszinierende Erlebnisse bescheren auch Walters Brahms- und Bruckner-Aufnahmen, in zügigen Tempi allesamt und geradezu von Ausdruckswut beseelt. Das Finale von Brahms' Dritter gibt es beispielsweise kein zweites Mal in solcher Intensität.
Und in den langsamen Sätzen lernt man viel über natürlich atmende Phrasierungen. Sie sorgen wie das behutsam ausgeleuchtete Wechselspiel von Streichern und Bläsern auch bei den Klassikern dafür, dass die Musik zum Hörer redet, niemals vorüberplätschert.

Überhaupt: Was heißt »klassisch«? Mozart, dem Walters ganze Liebe galt, wird unter seinen Händen zum leidenschaftlichen Theatraliker auch im Konzertsaal. Man höre den sich aufbäumenden Eintritt der Durchführung im Andante der großen G-Moll-Symphonie, Auftakt zu einer gefährlichen dramatischen Zuspitzung. »Romantisch« werden das heute manche nennen, müssen sich aber fragen lassen, wenn denn die Romantik nun eigentlich in der Musik begonnen hätte. Goethes Werther war zum Zeitpunkt der Komposition von KV 550 bereits in seinem 15. Lebensjahr!

Schon weil sie solche Fragen aufwerfen, ist die Auseinandersetzung mit den Aufnahmen dieses Dirigenten wichtig.

Bruno Walter. The Complete Columbia Album Collection.(Sony)



↑DA CAPO