Willem Mengelberg

1871 - 1951

Er war einer der bedeutendsten Dirigenten des XX. Jahrhunderts, mehr als ein halbes Jahrhundert lang Leiter des Concertgebouw Orchesters in Amsterdam - wenn er auch an seinem Lebensende aller Ehren verlustig ging, weil er während der NS-Besatzung weiterargearbeitet hatte.

Die Aufnahmen, die Willem Mengelberg hinterlassen hat, zählen zu den wichtigsten Tondokumenten, die hören lassen, wie die romantische Aufführungstradition nach 1900 weitergewirkt und sich - auch durch die Ansprüche der dirigierenden Komponisten jener Ära verändert hat. Mengelberg gehört zu den entschiedenen Vorkämpfern der damals zeitgenössischen Musik von Richard Strauss und Gustav Mahler.

Wie sein Antipode Arturo Toscanini, mit dem es in New York zu einem Disput um die Neugründung von New York Philharmonic kam, arbeitete Mengelberg fanatisch an der Präzision und jedem Detail des orchestralen Zusammenklangs; doch war es ihm stets um das Fließenlassen der Musik - und um den beredten Charakter jeder einzelnen Phrase - zu tun. Knallharte Attacken wechseln oft unmittelbar mit weich modellierten Passagen - Mengelberg schaffte es auch, bei aller Klarheit und Strukturiertheit einzelnen Instrumentalisten des Orchesters bei deren Soli scheinbar vollkomemne Freiheit zu lassen. So entwerfen seine Interpretationen bei ähnlich kompromißloser Probenarbeit ein Gegenbild zu Toscaninis strikten Klangbildern, denen man später zukunftsweisendes Potential zugestand, während Mengelbergs Stil als retrospektiv galt. Mengelberg scheute auch vor Instrumentationsretuschen nie zurück. Er suchte auch nach dem, was zwischen den Zeilen zu erahnen war. Und was er aus der Spieltradition herleitete - die er nicht selten von den Komponisten der Werke selbst übernehmen konnte.

Mahler - der »Originalklang«?

Die Aufnahme von Mahlers Vierter und des »Adagiettos« aus der Fünften Symphonie muß kennen, wer ein ganzheitliches Bild der Mahler-Spieltradition gewinnen will. Was das Adagietto betrifft: Als einzigem Dirigenten neben Bruno Walter gelingt es Mengelberg, diesen später vollkommen verkitschten Symphoniesatz als das zu präsentieren, was er darstellen soll: einen tönenden Liebesbrief an Alma Schindler, Mahlers spätere Frau. Mengelberg hat immer wieder betont, daß es sich hier um alles andere als traurige Musik handelt. Die spätere Konnotierung mit Thomas Manns Tod in Venedig durch den Mißbrauch als Filmmusik durch Luchino Visconti konnte er noch nicht ahnen!

Immerhin war Mengelberg mit dem Komponisten bestens vertraut und hat nicht zuletzt in Sachen Phrasierung und den Gebrauch des Portamentos von dem zehn Jahre älteren Kollegen (nicht nur in bezug auf dessen eigene Musik) viel gelernt. Auch - und vor allem - die Tempomodifikationen sind vermutlich weniger für Mengelberg charakteristisch als für den Stil der Epoche um 1900, dem gerade diese beiden Symphonien entsprangen.
Schon die ersten Takte der Vierten werfen alle neuzeitlichen Hörerwartungen über den Haufen. Die Zartheit und klanglichen Leichtigkeit, mit der das Hauptthema gespielt wird, ist allerdings ziemlich unerreicht.


Die Ästhetik des rigoros eingehaltenen Tempos ist doch weit jüngeren Datums. Das muß mitkalkulieren, auch wer sich dieser jüngeren Stilistik verpflichtet fühlt. Die Chance, daß eine Aufführung unter Mahler eher so geklungen wie unter Mengelberg als unter der eines der »Nachgeborenen« ist doch relativ hoch . . .

Die Beethoven-Lektion

Wer sich mit Mengelbergs Mahler-Deutung angefreundet hat, kann einen Schritt weiter zurück in der Musikgschichte wagen. Exzellent dokumentiert sind Mengelbergs Beethoven-Interpretationen - und auch sie muß man gehört haben, um zu begreifen, wie sich der Zugang der Dirigenten zu den Klassiker-Partituren verändert haben: Die scheinbaren »Manieren« Mengelbergs basieren sehr wohl auf Überlieferungen von Beethovens eigener Spielweise. Wer bei Beethovens Schüler Carl Czerny nachliest, wie frei und flexibel im Tempo der Komponist selbst seine Musik gespielt hat, wird entsprechende »Mutwilligkeiten« anders bewerten und plötzlich ein lebendigeres, vielgestaltigeres Bilder der wohlvertrauten Musik erhalten.

So hört man Beethovens Pastorale mit andern Ohren, sobald man Mengelbergs lebenssprühende Interpretation kennenlernt: Im ersten Satz nimmt er das »Erwachen heiterer Empfindungen bei der Ankunft auf dem Lande« so ernst wie die Tempovorschrift. Immerhin stammt die Charakterisierung ja ebenso von Beethoven wie das »Allegro am non troppo«...

Im zweiten Satz exekutiert Mengelberg dann ein Exempel für völlig frei über einer pulsierenden Belgeitung entfaltete Melodik, die sich nicht um Taktstriche schert.

Welch außerordentlichen Rang dieser Interpet unter den Dirigenten der ersten Hälfte des XX. Jahrhunderts einnimmt, beweisen auch seine Brahms-Aufnahmen - etwa der Livemitschnitt der Ersten Symphonie aus Amsterdam, 1940 - in denen jede einzelne Stimme des kontrapunktisch stets vollkommen durchhörbaren Gewebes expressiv aufgeladen scheint und die Spannung sich oft atemberbaubend verdichtet.

Musik im »Dritten Reich«

Beschämend verlief das Ende dieser großen Interpreten-Karriere.
Tatsächlich weist die Chronik des Concertgebouw Orchesters in der Zeit der deutschen Besatzung schlimme Eingriffe in die personelle Zusammensetzung der Musikergemeinschaft auf. Jüdische Kollegen wurden aus dem Orchesterverband entfernt. Aber man musizierte weiter und Mengelberg gastierte in ganz Europa. Die nationalsozialistische Presse kritisierte 1941, daß »weiternin zwölf Juden« im Concertgebouworchester beschäftigt waren.

Willem Mengelberg mußte dafür bezahlen, daß er in jener Situation nicht die Konsequenzen gezogen hat und weiter arbeitete. Wobei sich nach der Befreiung der Niederlande etliche Zeugen fanden, die von den Bestrebungen des Chefdirigenten zu berichten wußten, bedrängten Musikern zu helfen. Auch hatten die Wiener Philharmoniker bereits anläßlich eines Mengelberg-Gastspiels vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs, aber nach Einmarsch der deutschen Truppen in Österreich nicht schlecht, als der Dirigent während der Probe unvermittelt ausrief:
Und das Schönste auf der Welt, Mahler, das spielt ihr nicht?

Trauriger Lebensabend

Unmittelbar nach Kriegsende ging Mengelberg aller Ehren verlustig, die ihm die niederländische Krone je zuteil werden ließ. Auch zog man seinen niederländischen Paß ein und erteilte ihm Dirigierverbot. Mengelberg zog sich in die Schweiz zurück, wo er verbittert am 22. März 1951 starb.

Das Erbe

Jenseits aller politisch-moralischen Überlegungen kann jedenfalls nicht geleugnet werden, daß dieser Künstler eines der aufregendsten - und für die Bewertung der Interpretationsgeschichte aufschlußreichsten Vermächtnisse an Tonaufnahmen hinterlassen hat, darunter einen der bemerkenswertesten Beethoven-Symphonienzyklen und die vier Symphonien von Johannes Brahms.


→ Neuauflage der Aufnahmen für das Label Teldec aus den Dreißigerjahren


↑DA CAPO

Die Karikatur stammt von Hans Schließmann (1918)